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Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]
Antike Denkmäler (Band 3) — Berlin, 1926

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https://doi.org/10.11588/diglit.1792#0058
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52

die Brüste und die Unterschenkel durch die erwähnte Art
der Gewandbehandlung bereits so herausgearbeitet, daß ihre For-
men unter dem Chiton mit stark plastischer Wirkung in Erschei-
nung treten; es ist dies die entwickeltste aller nach London ge-
langten Figuren vom heiligen Weg. Noch feinere Beobachtungen
gestattet eine im Jahre 1902 gefundene, jetzt in Konstantinopel
befindliche männliche Branchidenfigur (Inv. Nr. 1562, Catalogue
des sculptures grecques Nr. 240), die in Verbindung mit
dem Miletwerk veröffentlicht werden wird. Die auf lehnenlosem
Stuhl aufrecht sitzende Gestalt hält im linken Arm einen dicht an
die Achselhöhle gedrückten Stab. Dieser wird im unteren Teile
tiurch den weiten Ärmel verdeckt, kommt aber unter demselben
in deutlicher, auffallend weicher Modellierung zum Ausdruck. Am
Halse ist das Gewand durch eine Spange geschlossen, die so an-
gebracht ist, daß sie unter einem
verdeckenden Stück des Chiton-
randes mit weichem, rundem Rücken
sich ausdrückt. Noch bemerkens-
werter ist eine Erscheinung an dem
verschleierten jugendlichen Frauen-
kopf des 6. Jahrh. v. Chr. aus Milet
(Abb. 8, Berlin, Inv. Nr. 1631, grob-
körniger Marmor, Höhe 20,5 cm).
Der Kopf gehörte ebenfalls einer
Sitzfigur an, wie denn viele der alt-
milesischen thronenden Frauenfiguren
einen Schleier dicht um das Haupt-
haar trugen. Hier schmiegt er
sich eng der Kopf- und Nacken-
form an und läßt mit gutem Em-
pfinden den Umriß und die Fläche
des Ohres genau hervortreten. Bei
dem verschleierten Kopf des Briti-
schen Museums Nr. 20, der aus
Didyma stammt, findet sich eine
ganz ähnliche Andeutung des Ohr-
konturs.

Noch wahrscheinlicher wird die
Beziehung zur altionischen Kunst,
wenn gezeigt werden kann, daß
diese bei Aufnahme der zierlichen
Faltentracht ihrem plastischen Grund-
prinzip treu geblieben, starken Unter-
schneidungen und tiefen Aus-
bohrungen auch dann noch aus dem
Wege gegangen ist. Dafür möge
der auf Abb. 9 dargestellte, aus
Tonien stammende kleine Frauentorso
(Berlin, Inv. Nr. 1744) ein Beispiel

sein. Er ist noch 52 cm hoch, besteht aus grobkörnigem Marmor,
der Kopf und der Teil von den Knien abwärts fehlt. Die
Gestalt ist bekleidet mit dem langen, ionischen Chiton, der in der
Mitte durch einen Gürtel geteilt, im oberen Teil in engen Wellen-
linien gefältelt und zu einem bogenförmigen Überfall geformt ist.
Sie trägt über dem Chiton das beide Schultern bedeckende Män-
telchen. Auf dem Kopf lag ein Schleier, der als breite Masse
sich auf die Schultern senkt, auf dem Rücken in zwei Enden her-
abhängt, und zwar so, daß das eine, kurze Ende nur den Rucken
bedeckt, wo es mit spitzem Zipfel auslauft, während das andere
Ende über die ganze Rückseite, soweit sie erhalten ist, hinabreicht.
Nirgends findet sich eine Bohrung oder Unterhöhlung, alles ist mit

dem Meißel flach ausgearbeitet. Dieselben Eigenheiten finden
sich an den Berliner jüngeren Sitzfiguren vom heiligen Weg, die
das Faltenwerk der Inselkunst angenommen haben und trotz
ihrer recht handwerksmäßigen Arbeit zum Vergleich sehr wichtig
sind (Kekule, Handbuch d. griech. Skulptur1 S. 53 mit Abb. einer
Figur) und die aus Ionien stammende stehende Figur, die mit
der linken Hand einen Vogel halt (Inv. Nr. 1577).

Solche Eigenheiten durch das ganze Material, namentlich
auch der Kleinfunde, ausführlich zu verfolgen, ist nicht Aufgabe
dieses Begleitwortes; das muß einer späteren Untersuchung vor-
behalten bleiben. Nur die Richtung, in der man suchen könnte,
sei damit angedeutet. Erschwert wird die Suche durch den Man-
gel an großer, reifarchaischer Plastik in unserem Denkmälerbestand.
Einstweilen wissen wir nicht, wo die Statue unserer Göttin entstanden
ist. Hat sie ein Kunstler des öst-
lichen Kreises geschaffen und fertig
nach Großgriechenland gesandt ?
Oder hat er sie dort aus dem von
der östlichen Heimat hergebrachten
Block gemeißelt? Wie auch die
Wechselwirkungen sein mögen, so
viel darf gesagt werden: ein Werk
von der künstlerischen und religi-
ösen Bedeutung wie dieses kann
nicht ohne den größten Einfluß auf
das bildhauerische Schaffen der Land-
schaft geblieben sein, in der es auf-
gestellt war. Die in Zukunft zu er-
wartende Vermehrung der archaischen
Funde Unteritaliens und Siziliens
wird die Bestätigung hierfür hoffent-
lich bald bringen, wie wir von hier
vielleicht auch eine Erklärung der
Herkunft der ludovisischen Altar-
reüefs erwarten dürfen, deren Ver-
wandtschaft mit attischer Kunst sie
zwar von unserer Göttin scheidet,
deren ionische Elemente aber ver-
bindende Züge darstellen.

Eine Benennung der Göttin
ist bei dem Fehlen jeglichen Attri-
butes einstweilen nicht möglich.
Sicher trug jede Hand einen be-
sonderen Gegenstand. Für die linke,
die nach oben gewendet gewesen
sein muß, wie der Stumpf des
Unterarmes noch erkennen läßt,
denkt man an die Omphalosschale,
für die Rechte an den Mohnstengel,
Ährenbüschel, an die Frucht oder Blüte des Granatbaumes,
ohne darüber entscheiden zu können. Aphrodite, Persephone,
Hera oder einfach eine Stadtgöttin mag vor uns thronen,
wie sie mit ähnlichem Kopfschmuck so oft das Münzzeichen groß-
griechischer Städte bildete. Als Ort ihrer Aufstellung wird man
sich die Cella eines Tempels von der Größe etwa des aegineti-
schen denken dürfen, dessen Kultbasis (92 * 112 cm) vor-
zuglich für ein Bild in der Größe unserer Göttin passen würde.
So mag sie einst den Glaubigen empfangen haben, mit der selbst-
verständlichen Ruhe und Sicherheit einer wahrhaft vornehmen
schönen Frau.

Theodor Wienand-
 
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