Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 7.1889

DOI Heft:
Nr. 7
DOI Artikel:
Keppler, Eugen: Deutschlands Riesenthürme, [8]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15865#0070
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
66

gestaltet er, wie der Töpfer den Thon,
frei was frühere Geschlechter für ihn be-
reit gelegt und keine bestehende Form hin-
dert sein selbständiges Schaffen. Nicht so
der nachgeborene Architekt. Er ist durch
das schon Bestehende beschränkt; er ist
gehalten, den von Beginn des Baues an
vorgezeichneten Weg einznschlagen und
weiter zu verfolgen; thnt er dies nicht, so
sind seine Schritte, wenn auch an sich
eines Meisters Schritte, doch nur Schritte
ab vom Ziele. Sein Bauwerk mag tech-
nisch bedeutsam sein, geschichtlich interes-
sant, malerisch pikant — ein einheitliches
Kunstwerk wird es nie — darnach ist unser
volksthümlichster Münsterthnrm, was seine
ganze Erscheinung betrifft, zu beurtheilen.
„Das Straßburger Münster, es ist ge-
wachsen wie jener Cyklopenbanm am
Aetna, wo ein Jahrtausend viele Stämme
in einen Stamm verbunden, der nun vom
Alter ansgehöhlt ein ganzes Hans in
seinem innern Raum umschließt. Darum
wie an den Jahresringen sich des Baumes
Sommer zählen, so an den Gliedmaßen
dieses großen Werkes die Alter der Kunst;
und wenn wir sie von den ersten An-
fängen gegen die Mitte in stetem Wachs-
thum begriffen finden, so sehen wir sie
von dort bis znm Ende in fortdauerndem
Sinken niedergehen; nur die Mitte
selbst, Erwins großes Werk, darf sich
keck und getrost jedem andern gegenüber-
stellen." „Eine Leichtigkeit und Schönheit
der Formen, eine Mannigfaltigkeit der
Zieraten und plastischen Nebenwerke, wie
sie hier sich findet, eine reichere Harmonie
dieser bis zur höchsten Eleganz gesteigerten
Formen der gothischen Baukunst, als diese
Fassade darbietet, wird wohl nirgendwo
wieder in dieser Vollendung gefunden
werden können." (Görres, S. 58 s. Den-
tinger S. 196.)

„Die Mitte", von der Görres spricht,
bezeichnet allerdings nicht das ganze Er-
win'sche Werk, aber sie bezeichnet den Glanz-
punkt desselben. Meister Erwin hatte den
Ban von Grund aus bis über die Mitte
hinauf errichtet, als er starb. Sein Sohn
Johannes vollendete das zweite Stockwerk
und führte sodann ganz im Sinne des
Vaters, den südlichen Thurm bis zur oberen
Gallerte am Wächterhaus, den nördlichen
zu beträchtlicher Höhe hinan. Auch die

einige Jahrzehnte nach seinem Tod erfolgte
Fortsetzung und Vollendung des Nord-
thnrms wich von dem ursprünglichen Plane
kaum ab. Somit ist nicht bloß die Mitte,
sondern das ganze gewaltige Parallelo-
gramm mit seiner 71 Meter Höhen- und
45 Meter Breitenentwicklung, mit Aus-
nahme des leidigen Zusatzes über dem
großen Rnndsenster, als Erwins Werk
anzusehen. — Doch von der Mitte, vom
Herzblatt aus, verbreitet hier ein uner-
schöpfliches Wachsthum seine Triebe gleich-
mäßig nach allen Richtungen, wie es in
Freibnrg mehr nach der Höhe znm Ueber-
irdischen strebt, an der Kölner Fassade sich
unten an der Erde fester bewurzelt und in
vielen Sprossen eines dichten Unterholzes
sich bestockt. Es ist die „große Rose", die
hier wie eine Sonne inmitten ihrer Strahlen
thront: jenes überschwenglich herrliche

Rnndsenster von 13,5 Meter Durchmesser
mit seinen sieben konzentrischen Kreisen,
deren äußerster, ein in 32 Zacken ge-
gliederter Steinkranz, in einer Rundung
von nicht weniger als 50 Meter das seelen-
volle Gebilde frei schwebend umschließt,
indem er die Strahlung der inneren Fenster-
gliedernng fortznsetzen scheint. Dieser
Zackenkranz verbindet ans das glücklichste
den Kreis mit dem Viereck, das seitlich
durch die zwei mittleren Thnrmstreben,
nach oben durch die Apostelgallerie und
nach unten durch den Umgang begrenzt
wird, welcher das mittlere von dem unteren
Geschosse scheidet. Vier frei schwebende
fünfgliedrige Rosetten füllen die Zwickelab-
schnitte ans. Kein Architekturgebild kommt
an feenhafter Wirkung diesem gleich. Auch
unter den allerschönsten seiner Art —
man durchgehe in Gedanken die ganze
Stufenreihe von dem noch in ziemlich
strengem Stil gehaltenen gewiß prächtigen
Radfenster von Notre Dame in Paris bis
zu der überaus zarten ilnd zierlichen Fenster-
rose von St. Ouen (St. Andoenns) in
Rouen: unter allen diesen steinernen Ver-
tretern der Rosa mystica und Sinnbildern
der göttlichen Unendlichkeit selbst strahlt
an Schönheit der Ausführung und Reich-
thnm der Anlage die „große Rose" von
Straßbnrg unvergleichlich hervor „velut
luna inter minora sidera“ — für den-
jenigen, welcher das feierlich ernste Innere
des Münsters betritt, erglänzt sie auch
 
Annotationen