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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 8.1890

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Nr. 6
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Keppler, Eugen: Der Hirsauer Bilderfries, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15907#0059

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der phantastischen Naivität, o der naiven
Phantasterei des mittelalterlichen Menschen,
der, je naiver er war, desto rafsinirtere,
gewürztere, verblüffendere Beziehungen
zwischen dem Sinnlichen und den: Gei-
stigen , dem Natürlichen und dem Ueber-
natürlichen ersann und mit Grazie in in-
finitum ausspann, bis zuletzt jeder Gras-
halm und jeder Stein, jedes Haar und
jede Klane zu einem transcendentalen Be-
griff sich vergeistigte! Während eben ans
einem dürren ansgesogenen Boden nur
marklose, fadenscheinige, an die graue
Theorie erinnernde Gewächse fortkommen,
entsproßt dem jungfräulichen Erdreich eine
Fülle säst- und kraftvoller Kräuter, reich
an blendenden Farben und schier betäuben-
den Düften, also daß eS dem Knltur-
philister, der sonst nur Straßenstanb
schluckt oder Zimmerlnft athmet, wenn er
unversehens einmal in ein solch wildes
Wachsthum sich hinein versetzt sieht, im
Kopfe schwindlig und schwach im Magen
wird!

Es klingt nicht fremdartig, wenn man
Ihnen sagt, daß Taube itnb Adler am
Riesenthor zu Wien weibliche Unschuld
und männliche Kühnheit bedeuten; im
Gegentheil, unfern heutigen Vorstellungen
ist dieses ganz angemessen. Es ist uns
nüchternen Menschen noch möglich, auch
dem Panther und besonders dem Widder
als Sinnbildern des Erlösers einigermaßen
Geschmack abzugewinnen: ungenießbar aber
ist nach unseren Begriffen die echt
mittelalterliche Ausdeutung und Ausbeu-
tung dieser Symbole ins Einzelne, so daß
z. B. die Sättigung des Panthers mit
verschiedenem Fleisch ans den mit Schmach
und Schmerz gesättigten Heiland bezogen
wird, und das zuerst nach vorn, sodann
nach rückwärts gewundene Widderhorn die
Allwissenheit Gottes veranschaulichen muß,
weil diese Vergangenheit und Zukunft zu-
gleich umfaßt. (Vgl. Arch. 1889 S. 20,
S. 26.) Doch was ist dieses gegenüber
dem haarsträubendsten — ich sage das vom
Standpunkt eines Mannes ans, der wie
Sie so tief ins Klassische sich hineingelebt,
daß er über das Horn der Ziege Amal-
thea ein ganzes Gymnasialprogramm ge-
schrieben — gegenüber dem abenteuerlichsten,
dem krassesten, erhabensten, dem geschraub-
testen, dem naivsten Gleichniß, dem Gleich-

niß von der Gais, mit dem ich Sie jetzt
belästigen muß, ja muß! ich thne es
nämlich sehr ungern, denn ich möchte Ihnen
um alles in der Welt ein Studium nicht
entleiben, das Ihnen und dem Sie noch
große Vortheile werden bringen können.
Wenn ich nur wüßte, wie die Sache an-
fassen, damit sie Ihnen nicht zu sehr gegen
den Mann geht! Da fällt mir glücklicher-
weise ein Mittel ein, das ein großer
Staatsmann unserer Zeit anwendet und
das, wie er versichert, ihm schon oft ge-
holfen , sich der Aufregung zu erwehren,
den kochenden Aerger zu dämpfen. Wie
wäre eS, wenn Sie es gebrauchten? —
zünden Sie eine Cigarre an! Nun erst
einen kräftigen Zug ... so! — Dieses
Gleichniß, für Sic ist es jedenfalls an-
stößig; in Ihrer Abhandlung von dem
Ziegenhorn steht kein Wort davon! Es
ist Gefahr, daß Sie es gar mit gewissen
egyptischen Göttertypen Zusammenhalten
werden, mit dem Gotte dies, der einen
Widderkopf, oder der Göttin Sebak, die
einen Krokodilskopf trägt; aber ganz mit
Unrecht, sage ich Ihnen; es war bei unfern
Vorfahren ein schönes, ein poetisches Bild!
Die Ziege bedeutet nämlich — Gott,
entweder Gott schlechthin oder die zweite
göttliche Person, unfein Herrn Jesus, der
mit seinem allsehenden Auge, der Ziege
vergleichbar, die vom Felsen späht, die
über die Erde zerstreute Christenschaar
überwacht, alle ihre Leiden, Gefahren und
Kämpfe kennt, ihr in den steilen Weiden
des göttlichen Wortes (prata ardua Scrip-
turarum) ein unerschöpfliches Trost- und
Stärkungsmittel bietet, alle Gedanken,
Worte, Werke, sowie die geheimen Ab-
sichten dieser Werke beobachtet und die
falsche Tugend von der wahren unter-
scheidet. Mit dieser Vorstellung verbindet
sich dann gern das Bild von der Ent-
hüllung der Gewissen am jüngsten Tag.
In kleinen Schauspielen voll kindlichen
Duftes erscheint der Richter, wie er die
Bösen beschämt, den Guten Lob und Lohn
spendet. Das Sinnbild aber dessen, der
Herz und Nieren prüft, ist immer die
Ziege, die vom Felsen späht. Vgl. Corblet
Jahrg. 1866 S. 177. Episch ist der
Gegenstand behandet im Thierbnch Wil-
helms von der Normandie, ans dessen
Handschrift Corblet a. a. O. eine längere
 
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