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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 8.1890

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Nr. 6
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Keppler, Eugen: Der Hirsauer Bilderfries, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15907#0060
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49

Probe gibt. Einige dieser Verse muß ich
Ihnen, leider nur in farblosem Alltags-
deutsch, übermitteln, weil Sie, alter Grieche,
das Altfranzösische doch nickt lesen könnten?)
„In höchster HöP am Felsenrand, Da ist
der Ziege Aufenthalt, Von dort bestreicht
sie alles Land, Und merkt gleich, was zn
ihr sich naht, Wer kommt, wer gehet und
wer irrt! Dies Thierlein von so scharfem
Ang, Das schon von ferne klar erspäht
Den Feind, der es mit List bedroht, Gleich-
niß und Bild trägt es von Gott. Denn
Gott, der Herre dieser Welt, Dort oben
wohnt ans hoher Wart, Läßt sein all-
sehend Auge weit Hinschweifen über alle
Lent, Vor ihm ist alles licht und klar,
Was jeder denken und sagen mag, Ja
was das Herz sich selbst verhehlt. All-
überall auf dem Erdenrund, In seiner Kirche
großem Reich, Da nähret Gott sich von
der Weid Der Almosen und Barm-
herzigkeit, Der guten Werke, die sein Volk
Als Früchte seiner Gnad ihm weiht!"

Oder wollen Sie die Geschichte lieber
attdentsch? Das betreffende Thier mit den säg-
förmigen , gewundenen Hörnern war, wie ich
soeben in Lauchert, Geschichte des Physiologus
iese, gerade dein deutschen Mittelalter als die
Steingais wohl bekannt. ZumBeweis der überall
gleichen Auffassung eines Symbols werden
Ihnen folgende Sätze aus den: germanischen
Physiologus (bei Lauchert S. 291) dienen, wenn
Sie dieselben mit den Versen Wilhelms von der
Normandie vergleichen. Ein tier heizit dorcon,
steingeiz, von deme zellit Phisiologus: Siu
minnet hohe berge; in den teleren weidenot
si, die uf den bergen sint. Ez ist ein tiure
tier unde bewarbt sich vile wole. Da si üf
den bergen get unt die lute in deme tale
gesihet, so bechennet si wole , ob si iagire
sint. Also tuot unser trehtin, der haltende
Christ, er minnet hohe berge, daz sint wäre
patriarche unt prophete unt apostali unt andere
heiligen. Vnser trehtin ist diu caprea, diu in
der heiligen christenheite weidenot mit den
werchen, dei heilige luote tuont, als er selbe
in dem evangelio chut; ich hungerote , ir
gäbit mir zezenne . . . Daz diu caprea so
heiteriu ougen habet . . . daz bezeichnet
unseren trehtin , also diu scrift chut: er ist
got aller gewizide. unt ist ave sus gescri-
ben: Vnser trehtin ist hoch unde sihet vile
verre hohiu unt nideriu. Der wise rihtare
sihit die gescephide ane , die er zuo sinem
bilide gescuof, unde rihtet unde bescirmet si
vile gewarliche vor des tiefales strikche. Er
heizit unsich die berga zuo diu suochen, daz
wir von ubilen gedanchen gemerret newerden ;
er meinet die heiligen scrift: da megin wir
ane sehen, was unsereme scephare an uns liehe
oder misseliche n. s. w.

In einer Reihe von Bestiarien kehrt letztere
Wendung wieder: daß die Bergeshöhen,
deren grüne Matten die Gais abweidet,
die Kirche darstellen mit ihren Patriarchen,
Propheten, Heiligen und Auserwählten,
deren gute Werke und Tugendübungen
Christus »qui pascit inter lilia« zur
Atzung und Waide bienen: weßhalb er,
wie wenn er sie selbst empfangen, einst
zn den Seinigen sprechen wird: „Ich

war hungrig und Ihr habt mich gespeist"
u. s. w.

Und nun? Was sagen Sie? Meinen
Sie nicht, daß diese Gais, die Ihnen so
schwer im Magen lag, unseren Hirsanern
vielmehr zn ben tröstlichsten Erwägungen
Anlaß gegeben habe? Wenn diese Helden
der Arbeit und Entsagung, welche hienieden
keinerlei Lohn ihrer Mühen erwarteten,
noch erwarten konnten, in einem Augen-
blick der Rast ihren Blick nach oben rich-
teten und ihn an ihrem Thurmfries haften
ließen, dann sagte ihnen dieses kunstlose
Gebilde (und zwar schneller als wir heute
es daraus herauslesen): „Fürchte dich

nicht, du kleine Herde, denn es hat dei-
nem Vater gefallen, dir das Reich zn
geben. Glaube, kämpfe, hoffe! Nichts
von dem, was du jetzt aus Liebe zu Gott
arbeitest oder leidest, ist verloren. Die
Traurigkeiten des Abends sind das Pfand
für die Freuden des Morgens!" — Und
Sie? Sie finden noch immer kein Wort
vor Befremden, und zwar obwohl Sie
meinen Erklärungen den unverfälscht mittel-
alterlichen Bodengeschmack wohl anmerken?
Oder vielleicht eben deshalb? Wann wer-
den Sie — Alterthümler — endlich lernen,
sich in den Jdeenkreis der Alten mit Selbst-
vergessenheit zu versenken!

Ist nun dieses Sichversenken im vor-
liegenden Fall etwas schwer gewesen, so
ist es doch nicht immer ebenso schwer.
Gleich die drei folgenden symbolischen
Ausdeutungen der Ziege werden Ihnen
menschlich weit näher stehen. Die erste
beruht ans der prosaischen Eigenschaft des
Wiederkäuens, welche (wir haben schon
früher, Arch. 1889 S. 6, ein Beispiel da-
von gehabt) die geistige Thätigkeit des
Betrachtens versinnbildet, nicht allein nach
mittelalterlichen, sondern auch nach mo-
dernen Anschauungen, denn im heutigen
Englisch, Französisch und in den übrigen
 
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