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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 8.1890

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Nr. 8
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Keppler, Eugen: Zum Ausbau des Ulmer Münsters, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15907#0081
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Verband Deutscher Architekten- und Jn-
genienrvereine sprach im September 1880
zn Wiesbaden einmüthig aus, „daß die
Vollendung des Ulmer Münsters ein Un-
ternehmen sei, welches nach dem Ausbau
des Kölner Doms zunächst ans die Unter-
stützung des deutschen Volkes Anspruch
habe". Damit war auch diese Wolke ver-
scheucht , hoffentlich auf Nimmerwieder-
sehen! Die Hindernisse aber, welche die
Beschaffenheit der Thnrmwände und des
Fundaments bereitete — erstere waren
nicht mehr fest unter sich geschlossen,
letzteres bekanntlich zur Aufnahme der
neuen Last nicht tragfähig genug —,
Hindernisse, welche vor Zeiten, schon wegen
der Schwierigkeit, sie zu berechnen und
tvegen der Leichtigkeit, sie zu unterschätzen,
verhängnißvoll hätten werden können: der
modernen Technik boten sie nur ein in-
teressantes, wenn auch etwas kostspieliges
Versuchsfeld. Nach genauer Prüfung:
»Quid valeant humeri , quid ferre
recusent,« eine Prüfung, deren Ergebnisse
mit dem Befunde Thräns übereinstimmten,
nnterfieng Beyer den östlichen Thnrmbogen,
durch den die Thurmhalle in das Mittel-
schiff mündet, mit einem unterirdischen
Bogen in der Art, daß die Fußpunkte des
letzteren an die des ersteren anliegen.
Dadurch ward die Fnndamentsohle wirk-
sam entlastet. Desgleichen wurde in den
östlichen Thnrmbogen, da er geborsten
war, ein zweiter eingefügt, sowie durch
Einbanten in den großen Fensteröfsiulngen
das Gerippe des Thnrmkörpers noch mehr
verstärkt; weil es Innenkanten sind,
wirken sie nach außen nicht störend und
auch ins Mittelschiff läßt der verengte
Bogen die Pracht des Martinsfensters
ungeschmälert hineinleuchten. — Nachdem
so unter dreijähriger unablässiger Pflege
der Bau innerlich gewachsen und zuge-
nommen hatte, brach das Wachsthnm ans
einmal zum Licht hervor mit einer Eile,
als wollte es alles Versäumte nachholen.
Aus Eck- und Mittelpfeiler des Thurmes
sorgfältig gegründet, steigen die acht Stützen,
die einzigen festen Theile des Achtecks,
rasch und sicher hinan. An den vier ab-
gebogenen Ecken begleitet sie das Gitter-
werk der Schneckenstiegen, in deren Spitzen
die aufstrebende Bewegung sinnig über die
Plattform hinaufwächst. Dann ergreift

diese erst den spröden Stein mit Macht
und treibt in acht Rippen gleich Spring-
wassern 59 Meter in die Lüste, bis sie
in einer Gesamthöhe von 161 Meter zur
Ruhe kommen, sich verbinden und wie
durch Dnnstfäden mit einander verwoben
(diese zarten Füllungen bestehen nicht in
Rosetten, sondern in hohen fensterartigen
Spitzbogen mit reichem Maßwerk) als
graziöseste und zugleich grandioseste Pyra-
mide den ätherischen Bau schließen.

Nun steht er da ohne Mackel und ohne
Tadel, ein Siegesdenkmal dein Geiste anf-
gerichtet, der nun völlig über die Masse
Herr geworden. Darum drückt uns diese
auch nicht mehr zu Boden wie kurz vor-
her, da sie noch als 70 Meter hohe vier-
eckige „Last des Erde" dastand ohne Zu-
spitzung und ohne Vergeistigung nach oben.
Hat sie doch jetzt mit der angeborenen
Schwere auch die Trägheit abgelegt und
scheut sich nicht mehr, zum Höchsten hinan-
znsteigen. Wie sollten bei diesem Anblick
die Gedanken des Menschen schwerfällig
und plump noch an der Erde kleben?
Zwar läßt der Riese uns auch jetzt noch
seine Uebermacht fühlen, oder besser: die
Uebermacht (mit Göthe zn sprechen) „des
Riesengeistes unserer ältern Brüder". Von
seiner Kraft gebannt, wer käme sich nicht
klein vor, klein wie der Spatz auf dem
Münsterdache? Aber zugleich schweben
wir, durch seinen leichten kühnen Schwung
emporgehoben, wie auf Adleröflügeln hoch
über allem Staub der Erde und fühlen
uns befreit uub begeistert unter dem Ein-
fluß des Größten, des Edelsten, was
deutscher Geist geschaffen. Diese Doppel-
wirknng des Thurmes kommt von dem
Gleichmaß, das zwischen konstruktiver Ge-
setzmäßigkeit und ornamentaler Freiheit
stattfindet; von der gleichen Höhe, welche
daran monumentale Stammhaftigkeit und
zierliche Leichtigkeit erreichen: zwei ent-
gegengesetzte, doch zn höherer Einheit ver-
schmelzende Seiten seines Wesens, die ihn
eben zu dem machen, was er nach seiner-
irdischen Bestimmung sein will und soll:
zum machtvoll aufgethürmten Denkmal
freien selbstbewußten Bürgerthums einer-
seits und zum beredten Zeugen der geisti-
gen Regsamkeit eines kunstsinnigen Ge-
schlechtes andererseits.

Natürlich herrschen die schweren Teile
 
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