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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 8.1890

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Nr. 8
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Keppler, Eugen: Zum Ausbau des Ulmer Münsters, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15907#0082

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71

an den unteren Stockwerken vor, die
leichtern und durchsichtigen an den obern;
aber weder schließt die Massenhastigkeit
von unten die schöne Jndividnalisirnng
der Banglieder ans, noch hindert die Zu-
spitzung und Durchbrechung nach oben
den reicheren Schmuck. Wenn Ludwig
Pfau, der übrigens die Ulmer Front so-
gar der Kölner vorzieht, die Ueberladnng
tadelt, „die schon zu ebener Erde beginnt,
den wohlthuenden Gegensatz zwischen einer
massenhaften Einfachheit im Unterbau und
einer reichen Schmnckentfaltnng im obern
Theil verschmäht und so den Eindruck
organischen Wachsthums durch architek-
tonische Willkürlichsten vermindert," so
hat er mit diesem Urteil nicht, wie Presset
meint, Recht, sondern er wird es, sobald
er den fertigen Thurm gesehen, von
selbst verbessern. In Köln gehört der
gegliedertste, ja zarteste Reichthnm gerade
den unteren Geschoßen an; oben werden
dort die Glieder gestreckter und zuweilen
weniger reich, während sie an Belebung
gewinnen: in Ulm dagegen halten gelöstere
Massen und zunehmende Fülle des Details
nach oben einander aufs glücklichste die
Wage.

Daß die Einzelzieraten am Ulmer
Thurm nicht so ans innerem Trieb ans
den stärkeren Gliedern und mit diesen her-
auswachsen wie in Köln, wie auch die
stärkeren Bauglieder selber hier nicht mit
solcher Naturnothwendigkeit aus einander
hervorgehen wie dort, ist bekannt. Da-
gegen erfüllt auch in Ulm die Zierat
ihren Zweck, den mächtigen Gliederbau
sänftigend zu umschmiegen — man denke
nur an die zarte Umsäumung der drei
Kolossalbogen des Hauptthors —, ganz
ausgezeichnet. Wenn aber auch die Haupt-
glieder hier nicht so spontan ans einander
hervorwachsen wie in Köln oder Freiburg
und wenn namentlich die Hinübertragnng
des Wachsthums vom Viereck zum Achteck
mangelt — ein Mangel, der nur einiger-
maßen vertuscht wird durch die Pyramiden,
in welche die freien Wendeltreppen ans-
laufen und durch das von den untern
Wendeltreppen auf die obern sich fort-
pflanzende Aufstreben; überhaupt läßt der
Ulmer Thurm, abgesehen von der sehr
organischen Ueberleitnng des Achtecks in
die Pyramide, die Horizontaltheilnng her-

vortreten — wenn also die Hanptglieder
hier nicht mit solch innerer Nothwendigkeit
hervorwachsen, so wachsen sie doch,
Dank den äußerst glücklichen Massenver-
hältnissen zu einer vollkommenen Harmonie
znsarnm en. Die immer schlanker, immer
luftiger, immer reicher aufsteigenden Haupt-
teile sind nicht bloß ans einander gesetzt,
sie sind für einander gemacht durch und
durch! Ueber diesem unvergleichlichen
Portal wäre uns jede andere Fortsetzung
als durch das ebenso unvergleichliche
Martinsfenster undenkbar; ebenso wäre
für das zierlich von vorgelegtem Stab-
werk nmrankte Oktogon jede andere Art
von Helm weniger geeignet; ebenso wäre
letzterer ohne die originellen Kränze, welche
seine Steilheit unterbrechen, unmöglich.
Auch anerkennt der oben angeführte Aesthe-
tiker willig die harmonische Gestaltung der
Massen, sowie die höchst malerische Wir-
kung, welche die Freigebnng wiederholter
lebhaft vorspringender Ornamente und die
leicht vergitterten, kräftig beschatteten Ver-
tiefungen Hervorbringen.

Unser Riesenthurm ist also, trotz einiger
mangelhafter Uebergänge und trotz der
späten Stunde, seiner Geburt, einer der
einheitlichsten, organischesten und zielbe-
wusstesten Ban-Gedanken, die je Fleisch
angenommen. Und das ist er, weil er
nicht mühsam zusammengestoppelt, sondern
als Ganzes, wie ans Juppiters Haupt
Minerva, ans dem Geist seines Urhebers
entsprungen und, fügen wir gleich bei,
gerade so, wie er entsprungen, auch ans-
geführt worden ist. Um eine Görres'sche
Vergleichung anzuwenden: „Mit bewun-
derungswürdiger Selbstverleugnung haben
die Lenker des Werks nicht wie Baukünstler
sich gehalten, sondern nur wie Gärtner
die Saat des ersten Meisters sorgsam ge-
hütet. Sie haben, in allem Wesentlichen*)

*) „Die hauptsächlichste Abweichung (heißt es
iu der besonderen Beilage des „Staatsanzeigers"
Nr. 8 d. I.) ist eine Verkürzung des Achtecks
um etwa 2 Meter und eine Streckung des Helms
von etwa 47 auf 59 Meter. Daß diese Streck-
ung eine maßvolle >var, zeigt, solange der Thurm
noch durch das Gerüste verdeckt ist, ein Blick
auf das genau nach dem abgeänderten Plan ge-
fertigte Modell. Die Gesammthöhe des Thurms
beträgt jetzt 16t Meter, d. h. etwa 10 Meter
mehr als nach dem alten Niß geplant war, wie-
wohl die nach alter Weise halb geometrisch, halb
 
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