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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 9.1891

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Nr. 2
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Keppler, Eugen: Der mittelalterliche Physiologus, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15908#0021

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15

nicht Wahrhaftes bloß, sondern auch höchst
Zweifelhaftes, nicht so fast das Beobach-
tete, sondern das Ausgeschmückte und ganz
Erdichtete, ja letzteres sogar mit Vorliebe,
weil es, den prosaischen Alltagserschei-
nungen an lehrhafterem Gehalt überlegen,
für mystische und moralische Auslegung
die ergiebigste Ernte bot. Es ist bemerkens-
werth, welch ein geistiges Kapital er zu
schlagen weiß nicht allein aus fabelhaften
Eigenschaften wirklicher, sondern auch sol-
cher Thierwesen, die nie gelebt oder die
schon damals zum Theil auf den Aussterbe-
Etat gesetzt waren. (Dahin gehören z. B.
das Einhorn, der Antholops, der Ameisen-
löwe, letzterer als Zwitter von Löwe und
Ameise ansgefaßt.) Nur ganz ausnahms-
weise fließt die Lehre einmal u n m i t t e l-
bar aus einer wirklich gegebenen That-
sache. So wenn die Anziehungskraft des
Magneten (es werden nämlich auch einige
Mineralien erwähnt) als Bild für die an-
geborene Hinneigung jedes Menschenherzens
zu seinem Schöpfer, oder die Härte des
Diamauts als ein Gleichniß für die Un-
überwindlichkeit der Propheten und Apostel
zur Zeit der Verfolgung aufgestellt wird;
oder wenn es heißt: „Die Schwalbe er-
scheint, wenn der Winter vorüber; sie singt
am Morgen und weckt die Schläfer zur
Arbeit: So erwachen die vollendeten As-
ceten, wenn sie den Winter überstanden,
d. h. die Stürme der Leidenschaft besiegt
und die Begierden des Körpers ausgelöscht
haben, heilig von ihren: Lager nach dem
Worte der Schrift: „Wach auf, der du
schläfst!" (S. 28). Oft wird ein natür-
liches Vorkommniß erst in einen wunder-
baren Vorgang umgewandelt, um sodann
als Träger eines geistigen Sinnes dienen
zu können, z. B.: „Wenn der Adler alt
wird, so werden seine Flügel schwer und
seine Augen dunkel. Daun sucht er eine
klare Quelle und fliegt von hier zur Sonne,
wo er Flügel und Augen ausbrennt. Da-
rauf läßt er sich in die Quelle herab, taucht
dreimal darin unter und wird so ver-
jüngt. So soll der Mensch, wenn die Augen
feines Herzens dunkel sind, sich zu Chri-
stus, der Sonne der Gerechtigkeit, erheben
und sich in der Quelle des ewigen Lebens
im Namen des Vaters, des Sohnes und
des heiligen Geistes verjüngen" (S. 9).
- „Wenn die alte Schlange sich verjüngen

will, so fastet sie 40 Tage, bis ihre Haut
schlaff wird; diese streift sie dann ab, in-
dem sie sich durch eine Felsspalte durch-
zwängt und verjüngt sich so. So sollen
wir durch Fasten und Kasteiungen das alte
Kleid der Sünde ablegen und eingehen durch
das enge Thor, das zum ewigen Leben
führt" (S. 15). Auf dem natürlichen Vor-
gang der Erneuerung der Schlangenhaut,
bezw. der Adlerfittige ist also die Sage von
der Verjüngung beider und auf dieser die
bildliche Deutung anfgebaut.

Ja, der Verfasser des Phyfiologns kann
von sich sagen was einmal ein dichterischer
Geschichtsschreiber — mehr Dichter als Ge-
schichtsschreiber — mit richtiger Selbstkeunt-
niß von sich bezeugte (ein sehr bedenkliches
Zeugniß für einen Geschichtsschreiber, aber
für einen Allegoriker wie den nnsrigen ganz
harmlos und wohl am Platz!): „Die
Gegenstände müssen sich gefallen lassen,
was sie unter meinen Händen werden."
Für den letzteren find sie nicht Selbstzweck,
sondern Mittet zum Zweck, deßhalb darf
e r mit diesen Gegenständen, die ein Ari-
stoteles uiib Ktesias, Plinius und Aelian
für ihn zurecht gelegt haben, umspringen wie
der Töpfer mit dem Thon, darf sie biegen
und runden, allsgestalten und mit ganz
neuen Pointen versehen, um sie für den Aus-
druck seiner Gedanken geeigllet zu machen:
darum ist aber auch bei ihm die Lehre mit
de»l Zeichen, der Geist mit dem Körper
immer unzertrennlich verwoben, wie das
Schlinggewächs mit dem Baum, daran es
sich aufringelt unb daraus es feine Nab-
ruug saugt. Dieser Umstand darf bei Be-
urtheilung des merkwürdigen Buches und
seines einst erstaunlichen Einflusses auf Lite-
ratur und Kunst nicht außer Acht gelassen
werden, wenn anderseits ans das Geschmack-
lose und Verzwnngene gewisser Verglei-
chnngelt hingewiesen wird. Geschmacklos er-
scheint manches, aber daran ist oft unser
dürrer rationalisirender Standpunkt nicht
minder schuldig als der kindhafte, unreife
vergangener Zeiten; auch gezwungen unb
gesucht sind manchmal die Vergleichnngs-
p ll n k t e — niemals aber die Vergleichungeil
selbst: diese wachsen vielmehr, wie gesagt
aus jenen aufs Natürlichste heraus, und
so sind diese Allegorien immer plastisch,
manchmal drastisch, immer aber lebendig unb
unmittelbar ins Auge springend, was um
 
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