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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 9.1891

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Nr. 6
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Der Hochalter der St. Kilianskirche in Heilbronn
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https://doi.org/10.11588/diglit.15908#0066

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59

herrlichen steinernen Sakramentshaus, welches
hier als Doppelthurm veranlagt ist. lieber
hoher Predella erhebt sich der gewaltige
Mittelschrein mit fünf Statuen, verschließbar
mit zwei breiten Flügeln, deren Außenseiten
(jetzt) leer, deren Innenseiten mit Reliefs
gefüllt sind. In den Nischen der Predella
befinden sich lebensgroße Brustbilder; in der
Mitte ein Gruppenbild, der leidende Heiland,
an den Armen gehalten von Maria und
Johannes; dieses Erbärmdebild offenbart
schon die gemüthstiefe Art des Meisters; die
drei einander nahe gerückten Köpfe bilden
einen Accord stillen, herzbrechenden Wehes.
Die beiden Nebennischen füllen je zwei Brust-
bilder der abendländischen Kirchenlehrer;
an ihnen bewährt sich eine andere Virtuosität
des Meisters, welche in lebendiger Auffassung
und charakteristischer Wiedergabe von Zügen
aus der Wirklichkeit liegt; die Gesichter sind
ungemein wahr und dabei geistig durchgebildet,
jedes wieder von ganz verschiedenem Typus,
die Haltung unbefangen, die Gestalten je zu
einander in Beziehung gesetzt. Ebenso be-
deutend in Auffassung und Durchbildung
sind die fünf 1,80 in hohen Figuren des
Mittelschreins, doch steht das Gesicht der
Madonna xuxb des Kindes tiefer als die
energischen Gesichter des Papstes und Bi-
schofs und als die jugendfrischen Gesichter
der beiden Märtyrerdiakonen Stephanus und
Laurentius. In die reiche Laubkrönnng der
fünf Nischen sind kleinere Statuen eingefügt,
wieder zwei Diakonen mit Märtyrerpalme
und Buch und zwei weibliche Brustbilder,
von Lübke als zwei Sibyllen bezeichnet
(Gesch. der Plastik, 2. A. S. 607), aber
wahrscheinlicher zwei Heilige darstellend (die
eine nnt dem Drachen auf dem Buch wohl
St. Margaretha). Die Flügel zeigen je
zwei Kompositionen in kräftig heraustreten-
dem Relief. Links unten die Geburt Christi,
lieblich ernst geschildert; darüber das Pfingst-
fest, vor ähnlichen Darstellungen dadurch
ausgezeichnet, daß in sämtliche Gestalten
und Gesichter ein wundersamer Drang
nach oben gelegt ist. Rechts unten steht
der Anferstandene zwischen den theils schla-
fenden, theils erschreckt auffahrenden Wäch-
tern; Nebenscenen zeigen seine Begegnung
mit Magdalena und das Kommen der Frauen
znm Grab. Auf dein umgestürzten Stein-
deckel sind hebräische Charaktere und die
Jahrzahl 1398 eingegraben; erstere lockten
zu verschiedenen Deutungsversuchen; ja Lübke
wollte sogar ans ihnen den Namen des
Meisters: Albrecht Michael Sturm, ent-

ziffern. In Wahrheit sind es die Buchstaben
des hebräischen Alphabets (s. „Staatsanzeiger
für Württemberg" 1878, Beil. L>. 265 und

315) und eine Schaustellung von Sprach-
oder Schriftkenntnissen, wie sie auch sonst im
Mittelalter vorkommt und wie sie Riemen-
schneider sich ans dem Rothenbnrger Blnt-
altar erlaubt, nur daß er hier die hebräischen
Worte lateinisch schreibt. Oben auf dem-
selben Flügel ist der Tod Mariä nach der
üblichen, hier aber geistig dnrchgearbeiteten
und konzentrirten Anordnung dargestellt,
lieber dem Hauptwerk ein hoch sich anf-
schwingendes, reich verästetes Tabernakelwerk,
das auf der photographischen Wiedergabe
etwas schwer wirkt, weil zum Zweck der Auf-
nahme die durchbrochenen Teile dunkel ver-
hängt werden mußten (der Fenster wegen).
In diese luftige Krönung ist eingegliedert
ein Kruzifix mit Maria, Johannes und der
knieenden Magdalena, zwei (etwas inferiore)
Statuen eines Bischofs mit Kirche und eines
Heiligen, die Bilder der hl. Anna selbdritt
und der hl. Elisabeth, zuoberst eine große
Bischofsfigur. Die Palme gebührt hier dem
Johannes unter dem Kreuz, dessen schmerz-
und thränenreiches Hinanfblicken zum Hei-
land dem Gesicht und der ganzen Gestalt
einen ergreifenden Ansdruck gibt.

Dieses gewaltige (die Gesammthöhe ist
12 in, die Gesammtbreite 7,5 m) und voll-
endete Kunstwerk steht noch immer namenlos
in der Kunstgeschichte verzeichnet. A. Web er
machte wohl den Versuch, es auf einen Na-
men zu taufen, indem er es mit Bestimmt-
heit den: Tilmann Riemenschneider zntheilte
(Dill Riemenschneider, 2. A.). W. Lübke
tritt auf dem Textbogen, welchen er obiger
Publikation zur Begleitung gab, dieser An-
sicht mit Entschiedenheit entgegen und macht
gegen sie geltend die verschiedene Behand-
lung der Gesichter, der Haare, der Haltung
und des Faltenwurfs. Diese Gegengründe
sind nicht ohne Gewicht. Will man Riemen-
schneider als Meister dieses Werkes ansehen,
so muß man annehmen, daß er gegen das
Ende seiner Wirksamkeit in eine neue
Schassensperiode eingetreten sei, in welcher
sein Stil noch einmal wesentliche Aende-
rungen erfahren hätte. Für diese Annahme
müßten Haltpunkte aufgezeigt werden an
andern bezeugten Bildern des Meisters.
Das eben ist ein Hauptverdienst des Photo-
graphen, daß er es ermöglicht hat, das Werk
andern unmittelbar nahe zu bringen, und auf
dem Weg der Vergleichung sollte es auch
möglich sein, die Streitfrage, ob Riemen-
schneider, ob schwäbische und Ulmer Schule,
zum Anstrag zu bringen. Doch nicht nur
dem Theoretiker und Historiker, jedem Freund
alter Kunst ist obiges Werk anfs Wärmste
zu empfehlen. — Wir fügen nur noch an,
daß das letzte Blatt auch noch die jetzt in
 
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