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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 10.1892

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Nr. 10
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Das Kloster Kirchheim im Ries und seine Kunstschätze, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15909#0098

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87

der Jungfrau sei unbekannt gewesen und
so sei sie von den Klerikern oder Mönchen
Virgo fortis genannt worden; des Volkes
Unverstand und schlechte Aussprache habe
daraus Wilgefort gemacht und unter diesem
Namen sei sie verehrt worden; den Mangel
einer Lebensgeschichte habe dann die ge-
schäftige Phantasie der Legendenschreiber
wohl ohne schlimme Absicht nach und nach
ersetzt.

Wie so manches andere, glaubte man
auch die Kumeranalegende aus dem Heiden-
thum ableiten zu sollen und erinnerte an
die Venu8 darbata oder an die nordische
jungfräuliche Göttin Iduna und den Gott
der Musik Bragir (Otte a. a. O. S. 581).
lieber diese Geistreichigkeit brauchen wir
wohl kein Wort zu verlieren. Dagegen
hat jener Erklärungsversuch etwas für sich,
welcher aus eine gewisse Klasse byzantini-
scher und a l t r o m a n i s ch e r Kruzifixe
verweist. Es gibt bekanntlich solche mit
sehr langem Leudenschurz, ja mit langer
vom Hals bis auf die Füße reichender
Tunika, die mitunter auch mit Aermeln
versehen ist; das Haupt trägt statt der
Dornenkrone eine Königskrone. Man habe
in späterer Zeit diese Darstellung nicht
mehr verstanden und gemeint, sie nicht aus
den Heiland, sondern auf eine weibliche
Märtyrerin beziehen zu sollen und dies
habe zur Bildung jener Legende Anlaß
gegeben. Das wird wohl richtig sein, daß
manche als Kumerauabilder angesehene uub
verehrte Kreuzbilder nichts anderes sind
als wirkliche Kruzifixe. Wir haben in
„Württembergs kirchlichen Kuustalter-
thümern" S. 312 aus Wolfartsweiler
ein romanisches Kruzifix uotirt, welches
wohl wegen des starken Hervortretens und
der Rundung der oberen Rippen der hier
entblößten Brust auch für ein Kumerana-
bild gehalten wurde. Dagegen erscheint
es wenig wahrscheinlich, daß derartige Kru-
zisixbilder die ganze Legende von der hl.
Wilgefort oder Knmerana erst veranlaßt
hätten; vollends bliebe unerklärt die Epi-
sode mit dem Geiger und dem Schuh.

Eben die letztere, welche in belgische
Bilder der Heiligen und in das von Prag
mit einverwoben ist, führte die bei den
Bollandisten citirten Gelehrten Franz Bi-
varius und Baron Heinrich Julius von
Blnn auf eine andere Fährte. Ihre An- >

sicht ist, daß die Kumerauabilder
wohl u r sp r ü n gli ch n i ch t s a n d er e s
gewesen seien als Kopien des sog.
Vo 11o santo im Dom zu Lucca
in Italien. Denn an dieses Kreuzbild
hefte sich eben die Sage, daß es einmal
einem Armen oder unschuldig Verfolgten
den silbernen Schuh zugeworfen habe.

Im Mittelschiff des Domes von Lucca
steht auf der rechten Seite das Tempietto,
ein Marmortempelchen von 1484. Das-
selbe birgt ein angeblich von Nikodemus
stammendes Bild des Gekreuzigten, das
den Namen Volto santo führt und auch
von Dante im Inferno (XXI, 48) erwähnt
wird. Das Bild zeigt den Heiland ange-
than mit einem seidenen Aermelkleid, das
einem Frauengewand ähnlich ist. Das Kleid
ist reich gestickt und mit einem Gürtel um
die Lenden zusammengehalten, dessen eines
Ende bis znm Saum hearbreicht; auf dem
Haupt trägt der Heiland eine mit Edel-
steinen besetzte Krone. Die Schuhe sind
mit Kreuzen bezeichnet und der eine der-
selben, der des rechten Fußes, ist etwas
vom Fuße gelöst und wird von dem unter
dem Fuß stehenden Kelch ausgenommen.
So berichtet Baron Blun, der im 17. Jahr-
hundert das Bild selber sah und eben durch
die Aehulichkeit des Kumerauabildes mit
demselben auf obige Hypothese geführt
wurde. Im 11., nach andern im 8. Jahr-
hundert, soll der Volto santo nach Lncca
gekommen sein. Kraus (Realencykl. II,
242) glaubt, daß das Bild aus Armenien
stamme und nicht über das 7. oder 8. Jahr-
hundert hinansreiche. Eine Abbildung des-
selben gibt Garrncci in seiner Storia,
Tavola 432; der Abdruck eines Bronce-
Siegels aus dem 14. Jahrhundert mit dem
Volto bei Stockbauer, Kunstgeschichte des
Kreuzes S. 264. Der Volto santo
findet sich ans den Münzen von Lucca von
1235 an und fand durch Kopien, wie es
scheint, Verbreitung in die ganze christliche
Welt.

Die Hypothese von Bivarins und Blnn
wurde durch Schäfer 1853 und durch
Schweizer 1867 weitergeführt (vergl.
Stockbauer a. a. O. S. 267 ss.). Sie
weisen darauf hin, daß im Mittelalter der
gekreuzigte Heiland und besonders auch das
Bild von Lncca die Namen: sankte Hölpe,
saute Hülfe oder Gehülfe, snnte Hülpe,
 
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