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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 10.1892

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Nr. 11
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Wolff, Odilo: Rede über die christliche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.15909#0107

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96

In dem Maße also, in dem immateriel-
len geistigen Gesetze, das der Schöpf-
ung zu Grunde liegt, nicht sowohl in der
Materie als solcher, hat sich die „Fuß-
spur Gottes" abgeprägt. Wenn wir
das von der ganzen Schöpfung sagen, daß
sie die Fußspur Gottes zeige, dann dürfen
wir von der Krone der Schöpfung, vom
M e n s ch e n , behaupten, daß er, und zwar
seinem Leibe nach, nicht bloß die Fuß-
spur Gottes, sondern die Ebenbildlich-
keit Gottes an sichtrage. Denn Gott
schuf ihn, und gewiß auch dem Leibe nach,
„nach Seinem Ebenbilde", »ad imaginem
suam«. Und diese Ebenbildlichkeit, auch
sie beruht nicht sowohl in der Materie des
Menschenleibes als solcher, als vielmehr
in dem Immateriellen der Materie, in dem
geistigen Gesetze, das in seiner Gestalt
herrscht, mit andern Worten: in dem
Maße. Wir dürfen kühn sagen, daß er
seinem Körper nach „göttliches Maß" an
sich trage, göttliches Maß in endlicher
Begrenzung. Und dieses Maß oder dieses
Gesetz des Maßes, wornach sein Körper
in seiner Schönheit gebildet ist, muß in
einer Urform wurzeln — und zwar, da
das Maß zur Geometrie gehört, in einer-
geometrischen Urform, — welche der sym-
bolische Ausdruck des göttlichen Gedankens,
Gottes Selbst ist; ja wir müssen hinzu-
fügen: des dreieinigen Gottes. Denn in
diesem Geheimnisse offenbart sich erst die
ganze Unendlichkeit der Vollkommenheit
Gottes, und können erst die Momente, die
zum Begriff des Schönen gehören, als die
Einheit in der Mannigfaltigkeit und die
volle, klare Entwicklung der inner» Voll-
kommenheiten nachgewiesen werden.

WaS ich hier vom Menschen gesagt,
gilt vor allem von dem Urbilde der Men-
schen, dem Gottmen scheu Christus
Jesus, der da ist speciosus prae filiis
hominum. Sein heiligster Leib muß in
höchstmöglicher Weise das Ebenbild Gottes
an sich tragen, und damit auch jenes
„göttliche Maß", da er geschaffen wurde,
um von dem göttlichen Worte angenommen
und durch Seine heiligste Seele mit dem
göttlichen Wort zu einer Person vereinigt
zu werden.

Wenn das also von der ganzen Schöpf-
ung gilt, dann ist es gewiß, daß auch wir,
wenn wir Meisterwerke der Kunst schassen

wollen, das alte große Prinzip des
Maßes wieder zu Grunde legen müssen,
das die ganze alte Kunst bis zum Aus-
gange des Mittelalters beherrschte, wo es
mit der gesammten Tradition nntergieng
und vergessen wurde. Daher allein kommt
es, daß es uns nicht mehr gelingen will,
trotz der genauesten Detailkenntnisse der
alten Bauten, beispielsweise ein neues,
wahrhaft griechisches Werk zu schaffen.
Wir können es höchstens kopiren, während
der christliche Baumeister der ersten Jahr-
hunderte unserer Zeitrechnung in den herr-
lichen Basiliken neue Werke schuf, sogar
aus dem Material der alten griechischen
und römischen Bauten, neue Werke ihrem
ganzen Geiste nach und angepaßt den Be-
dürfnissen, die ganz andere waren, als die-
jenigen , denen früher die Tempel und
Hallen gedient hatten, von denen er die
Säulen und Architrave genommen hatte.

Das Gesetz des Maßes war die Formel,
welcher der unendliche Reichthum der Bil-
dungen aller alten Stile gehorchte. Es
ist, wie A. Reichensperger sagt, „jenes
Etwas, das uns wie der Athen: eines
höher» Lebens ans allen alten Werken
anweht".

Ein Werk, darnach geschaffen, ist stil-
voll, ob es nun in der griechischen, alt-
christlichen, romanischen oder gothischen
Bauweise ansgeführt ist. Und wenn es
gothische oder romanische Formen hat, und
es hat dieses Gesetz nicht, so hat es keinen
Stil.

Haben wir dagegen das Grundprinzip
des Maßes und damit das Hauptelement
der Schönheit wieder, das unabhängig ist
von den Zeiten und Stilen, haben wir
dieses wichtige Gestaltnngsprinzip der alten
Meisterwerke wieder, dann wird vielleicht
noch einmal die Zeit wahrhaft schöpferischen
Wirkens, eine Zeit großer Meisterwerke
anbrechen.

Man hat gesagt, das Gesetz sei ein
Hemmschuh für das Genie. Ich antworte
darauf mit dem Aesthetiker Th. Bischer:
„Es ist vielmehr die geheimnisvolle Be-
wahrerin der Schönheit." Am Gesetze er-
starkt die Freiheit. Es ist nicht Schranke,
höchstens Moderator der Freiheit. Was
aber besonders wichtig ist: Das Gesetz
allein gibt dem Gefühle des Künstlers,
von dem Plato sagt, es könne keineswegs
 
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