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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 14.1896

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Nr. 5
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Die Sibyllen in der christlichen Ikonographie
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https://doi.org/10.11588/diglit.15913#0052
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12

die kumäische Sibylle voit DomenichinoH
(ch 1641) und die persische von Guer-
ctno* 2 3) (f 1666), den begabtesten Schülern
Carraccis. In Italien charakterisirte man
die Sibyllen durch entsprechende Inschrif-
ten in lateinischer, seltener griechischer
Sprache (in Assisi sind die Inschriften !
italienisch), in Frankreich dagegen gab man
den Sibyllen meistentheils symbolische Attri-
bute in die Hand, welche sich aus ihre
Prophezeiungen des Leidens Christi bezogen;
in Tanriac (Bretagne) finden sich noch
dazu kurz gefaßte sibyllinische Weissagungen
in altfranzösischer Sprache (1545). Das
ist der größte Unterschied in der Dar-
stellnngSweise der Sibyllen der früheren
Renaissanceperiode in Italien und Frank-
reich. Auch bezüglich der Attribute ist
zu bemerken, daß dieselben nicht immer
die gleichen waren. So gab man z. B.
der delphischen Sibylle eine Fackel in die
Hand, da sie durch ihre Prophezeiungen
die heidnische Welt erleuchtet hat; andere
Künstler verliehen ihr die Dornenkrone
als symbolisches Attribut, weil sie die
ganze Leidensgeschichte Jesu Christi ver-
kündet haben sollte; die Sibylle von Tibnr
trägt auf mancheu Bildern den Handschuh,
auf anderen ein Bündel Ruthen, An-
deutungen der Backenstreiche oder der
Geißelung, die der Heiland erlitten; in
Tanriac wurde ihr eine crux triumpha-
lis in die Hand gegeben, mit Bezugnahme
ans die von ihr prophezeite Auferstehung
Christi?)

Als Michel Angelo im Jahre 1508
vom Papst Julius II. deu Auftrag er-
hielt, die Decke der Sixtina zu bemalen,
brachte er in den Stichkappen des Ge-
wölbes abtvechselnd die vier großen Pro-
pheten und vier Sibyllen in wahrhaft
herrlicher, genialer Ausführung, als Ver-
künder des Erlösers, an. Er brauchte
keine Symbole, keine erklärenden Inschrif-
ten, um diese mächtigen, großartig dar-
gestellten Frauengestalten als Sibyllen
zu kennzeichnen. Die persische und kn-

C Gallerte Borghese in Rom.

2) Quirinal.

3) Diese merkwürdige Weissagung lautet: 8-ä
postquam triduo lucem repetiverit, atque Mon-
stravit somnum mortalibus, atque docendo
cuncta illustravit, celestia tecta siibibit Nubibus
invectus.

maische Sibylle stellte er als hochbetagte
Weiber dar, die erythräische unb lybische
in der Blüthezeit der Jahre mit fast
männlichen Gesichtszügelt.

Ganz anders entledigte sich Michel Auge-
los großer Nebenbuhler, Rafael, des ihm
! von dem reichen Kunstmäcen Agostino Chigi
ails Siena enheilten Auftrages, in Sta.
Maria della Face Sibyllen und Pro-
pheten zu malen. Während Buonarotti
das Aussehen ltitb die Körperverhältnisse
seiner Sibyllen in das Gewaltige und
Riesenhafte steigerte, gab Rafael den Pro-
phetinnen als vornehmsten Antheil die
Schönheit, das Ebenmaß, die anmuts-
volle Bewegung. Engel Gottes tragen
ihnen die Geheimnisse der Zukunft zu.
Rafael faßte die Sibyllen als Herolde
der An ferstehtlng ans; dieses deuten
die Jnschrifteit an. Der Sibylle von
Cumä reicht ein Engel eine Schriftrolle
mit der Inschrift: Auferstehung vom
Tode. Die persische Sibylle schreibt aus
die Tafel des Engels: deni Todeö-
loose ist er verfallen. In der
Mitte hält ein Engel einen Schild, aus
dem zu lesen ist: Zum Licht! Zur
Rechten befinden sich die phrygische Si-
bylle und die hochbetagte Sibylle von
Tibnr; ein Engel zeigt ihnen die Worte:
Der Himme l umschließt den Er-
denraum, während ein anbevev nieder-
schwebend eine Tafel hält mit der Auf-
schrift: Und ich werde auferstehen.
In der Mitte malte Rafael einen Engel-
knaben mit flammender Fackel—Sym-
bol der Sibyllen im allgemeinen, da
sie durch ihre messiauischen Weissagungen
das Heidenthnm erleuchtet haben sollten.
Bei der Betrachtung dieser Sibyllen ist
es schwer zu entscheiden, ob man Michel
Angelo oder Rafael den Vorzug geben
soll; bedenkt man, daß Rafael ans einem
schmalen Mauerstreif über dem Altar seine
Sibyllen malte, so ist die Kunst des Meisters
um so inehr zu bewundern?)

Die späteren Meister malten einzelne
Sibyllen als ideale Franengestalten, ohne
ihnen charakteristische Merkmale beizulegen.
So malte z. B. Domenichino die kumäische

0 Gölhe sagt in seiner „italienischen Reise":
„ohne die wunderliche Beschränkung des Raumes
wäre das Bild nicht so unschätzbar gen reich zu
denken."
 
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