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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 14.1896

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Nr. 10
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Schwäbische Kruzifixbilder nebst Kruzifixbetrachtungen, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15913#0106
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92

Kreise. Wie sie sich bemüht haben, auf
dem Untergründe natürlich schöner Gesichts-
züge jene höhere moralische Schönheit znm
Ausdruck zu bringen, die unter der Hülle
des Fleisches den Geist und im Menschen-
antlitz das Spiegelbild einer großen Seele
und eines edeln Herzens schauen läßt, so
gelang es ihnen anch, die ganze Gestalt
mit einer über die plastische und rein
äußerliche Vollendung — Regelmäßigkeit
und Ebenmaß der antiken Gliederfülle —
weit hinausgehenden Weihe zn übergießen:
mit einem höheru Adel, der unter möglichst
feiner und vollkommener Leibesform die
Fülle der Gottbeit ahnen läßt. Unter dem
Meißel dieser Meister fängt der Glieder-
bau, luftiger und duftiger geworden, an,
sich zn vergeistigen itub über die Be-
dingungen der Sterblichkeit sich zn erheben;
man beachte nur, wie z. B. bei dem Wib-
linger Krnzifixus ein unversiegbares Leben
die leibliche Hülle zu durchwogen scheint,
während doch das sterbliche Leben im Er-
löschen ist! Noch ein Augenblick — das
Opfer ist vollbracht, dann weichen sofort
alle Schatten, was sterblich ist wird ver-
wandelt, der „Entkleidung" ist die „Ueber-
kleidnng" gefolgt imb das Bild des ver-
herrlichten Christus erscheint von den
Strahlen unendlicher Schönheit und über-
schwenglicher Seligkeit rings umflossen?)

Mit solcher Veredlung und Vergeistigung
des Gesichtes und der ganzen Gestalt geht
aber Hand in Hand das beruhigte Mittel-
maß des tragischen Schmerzes, der sich
stets innerhalb der Grenzen der plastischen
Würde hält. Wo die ideale Auffassung
waltet — das Schöne im höchsten Sinne
und das feine Ebenmaß, da ist, so heftig
anch die Bewegung, der sich ein gewisser
Typus überläßt, und so lebhaft seine Em-
pfindungen sein mögen, jedes Uebermaß in
Gebärde und Gesichtsansdruck von vorn-
herein ausgeschlossen. Nirgends aber
wäre übertriebenes Muskel- und Mienen-
spiel schlechter angebracht als bei der Dar-
stellung Desjenigen, welcher „in des Lei-
dens und Sterbens äußerster Krisis, dul-
dend mit nie dagewesener Ergebung und
Seelengröße, mit voller sittlicher Freiheit,
in opfernder Liebe den Fluch des Leidens
iu seiner Ursache, der Sünde, überwunden
und gehoben, im Kamps unterliegend, in
der Niederlage siegend, iu seinen Wunden

Heilung, in seinem Tode das Leben bringend
und durch Schmach und Schmerz in die
Herrlichkeit eingehend uub einführend"?)
Wir wollen, daß das Aeußere eines Men-
schen auch in den brennendsten Qualen,
im letzten Kampfe, ja nach überstandeuem
Tode noch jene Ruhe, jenen Frieden be-
wahre, woran man die über Schmerz und
Todespein erhabene Seele erkennt. Auf
dem sittlichen wie auf dem physischen Ge-
biet, in Freud und Leid möchten wir eben,
daß der Mensch ganz Mensch sein solle
und der hoheitsvollste Zustand,, zn welchem
sich in unfern Augen ein Sterblicher er-
heben kann, ist jene ungetrübte Ruhe und
Heiterkeit, in der wir ein Vorrecht der
Gottheit selber erblicken?) „Eben deßhalb
muß," sagt Lessing, „wenn die bildende
Kunst einmal einen tragischen Gegenstand
wählt, das Charakteristische in die Gren-
zen der formalen Schönheit zurücktreten.
Selbst unter den angenommenen Umstän-
den des höchsten Schmerzes muß der Künst-
ler noch immer auf Schönheit hinarbeiten;
er darf daher jenen nicht in seiner vollen
Heftigkeit darstellen, sondern muß ihn auf
ein ruhigeres Maß herabsetzen, um ihn
so innerhalb der Grenzen der plastischen
Schönheit halten zn können? ^) — Wäh-
rend Frische und Gesundheit, Leben, Leibeö-
krast, Herzeusgüte, Aufrichtigkeit, Mnth,
Standhaftigkeit, Großherzigkeit, lauter
Eigenschaften, die den Menschen adeln,
von selbst und nothwendig und immer unfern
Beifall finden, sehen wir das Leidenschaft-
liche, das nur dann frommt, wenn Weis-
heit es zügelt, nur selten mit Behagen;
sein Ungestüm erschreckt uns und so fes-
selt uns in dem Schauspiele, das die
Leidenschaften bieten, tiicht so fast ihr
Anblick und ihr wildes Wesen, als viel-
mehr der Sieg, den wir die Tugend über
sie davontrageu sehen?) Darum „äußert
sich (so schildert bekanntlich Winkelmann
die Beherrschung des Schmerzes im tra-
gischen Kunstwerk) der Schmerz, welcher
sich iu allen Muskeln und Sehnen des
Körpers entdeckt und den mau ganz allein,
ohne das Gesicht und andere Theile zu be-
trachten, an dem schmerzlich eingezogeneu
lluterleibe beinahe selbst 31t empfinden
glaubt: dieser Schmerz äußert sich den-
noch mit keiner Wnth im Gesichte und
in der ganzen Stellung. Er erhebt kein
 
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