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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 15.1897

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Nr. 8
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Keppler, Paul Wilhelm von: Der romanische Kirchenbau, [1]
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— 67

geistigung des Stofflichen, eine Umbildung
des Steinbaues in einen lebendigen, be-
seelten Organismus, und bewundern mit
Göthe (Von deutscher Baukunst; Werke,
Cottafche Ansg. 1869 Bd. 35 S. 3) „die
großen harmonischen Massen, gu unzähligen
kleinen Theilchen belebt, wie in den Werken
der ewigen Natur", bewundern, wie „hier
alles Gestalt ist bis ans das geringste
Zäserchen und alles zum Ganzen zweckt".
Die viel freiere Bewegung in der Grund-
riß- und Anfrißbildnng, die fast unbegrenzte
Variirbarkeit des golhischen Schemas, welche
durch die Spitzbogenwölbnng und die Durch-
brechung der engen, durch Kreis und
Quadrat gezogenen Grenzen ermöglicht
wurde, die harmonische Jneinsbildnng von
Innen- und Anßenban, die freiere, luftigere,
leichtere Gestaltung aller Glieder und
Verhältnisse, die Helligkeit, Weite, Höhe,
Durchsichtigkeit der Jnnenränme — wer
wurde all das nicht als Vorzug, als will-
kommene Errungenschaft anerkennen?

Mit Recht hat man sodann hingewiesen
ans die mathematisch strenge Struktur der
golhischen Bauten. „Wie eine Art arith-
metische Gleichung," sagt Schrörs in den
tiefsinnigen Betrachtungen über die kirch-
lichen Baustile im Lichte der allgemeinen
Knltnrentwicklnng (Zeitschrift IX, 178),
„klingt die Harmonie der Zahlen durch
das ganze Bauwerk; daher auch die un-
widerstehliche Neigung gu geometrischer
Ornamentation, die alle Flächen mit ihren
seingezogenen, klaren Linien überspinnt;
was dem Zirkelschlag sich nicht fügen
kann, weil es organischen Gesetzen ge-
horchen muß, zeigt in anderer Weise das
Streben nach höchster Konsequenz." Und
nian hat ebenfalls mit Recht hervorgehoben,
daß diese verstandesmäßige Klarheit und
Berechnung doch keine Nüchternheit und Kälte
erzeuge, daß dieses logische und geometrische
Gerippe nicht hart unb starr erscheine, weil
es umkleidet sei mit warmblütigem Fleisch,
durchpulst von einer überqueUenbeu Fülle des
Lebens, überbildet mit einem unerschöpflichen
Reichthnm von Formen, welche die Phan-
tasie anregen und zum Gemüth sprechen.

Auch jene haben sicher nicht unrecht, welche
einen inneren Zusammenhang annehmen
zwischen der Ausbildung der Gothik und
der Entstehung der golhischen Dome und
der ganzen, transscendental-idealistischen
Geistesrichtnng des Mittelalters, welche

in jenen Domen diese Richtung in Stein
verkörpert wiedersinden. Man wird zn-
stimmen können, wenn Ulrici (Abhand-
lungen zur Kunstgeschichte, Leipzig 1876
S. 45 s.) in der Gothik eine Art archi-
tektonischeJneinsbildnng der Scholastik und
Mystik sieht und wenn Schrörs sie eben-
falls zu diesen beiden Geistesmächten des
Mittelalters in Beziehung setzt. „Es läßt
sich nicht leugnen," sagt letzterer (IX, 179),
„daß infolge jener ehernen Gesetzmäßigkeit
die gothisehen Bauten, in ihrer nackten
Architektur betrachtet, etwas Kühles und
Verstandesmäßiges an sich haben. Sie
theilen diese Eigenthümlichkeit mit dem
zweiten großen Knltnrfaktor der Zeit, mit
der Scholastik. In herber Gedankenstrenge,
Begriff ans Begriff, Urtheil ans Urtheil,
Schluß auf Schluß thnrmend, schasst diese
Wissenschaft ihre Systeme, die von keiner
seelenvollen Einbildungskraft nmwoben sind,
an denen keine Blumen künstlerischer Dar-
stellung emporranken. Und diese Methode
gebot über die Geister mit zwingender
Gewalt, sie war die alleinige Form, in der
allgemein gültige Gedanken ihr Dasein
hatten. Es war natürlich, daß die Kunst,
ihres Ursprungs in dem höheren Geistes-
leben nicht vergessend, von dem Bannkreis
jener Art berührt ward. Sogar noch tiefer
ist der scholastische Geist in sie einge-
drnngen. Der statischen Konstruktion des
golhischen Baumeisters liegt ein ähnliches
Gesetz zu Grunde wie jenes ist, das in
der Gedankenentwicklung des scholastischen
Dialektikers waltet. Jedes Joch mit seinen
Säulen und Strebestntzen, die ans Druck
und Gegendruck enlspringende Festigkeit,
ist wie eine logische Folgerung, die sich
ans Ober- und Untersatz ergiebt. Und
indem das ganze Gebäude ans einer Reihe
solcher architektonischer Syllogismen zn-
saimnengesetzt erscheint, erinnert es an die
wissenschaftlichen Lehrsysteme des Zeitalters,
die in syllogistischem Fortschreiteil sich ans-
bauen . . . In der Blüthezeit geht der
Scholastik eng verbunden die Mystik guv
Seite. Bei den großen Lehrern des
13. Jahrhunderts sind sie noch zu reiner
Harmonie vermählt und erst die Periode des
Verfalls läßt diese geistigen Richtungen feier-
lich auseinander treten. Auch die golhischen
Kirchen sind von den Strahlen einer feier-
lichen Mystik durchleuchtet und durchwärmt."

(Fortsetzung folgt.)
 
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