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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 21.1903

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Nr. 6
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Schermann, Max: Wanderungen durch einige Kathedralen Nordfrankreichs, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15936#0066

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bei' Vorzeit. Wie ein Blumengewinde
fliegt das riesige Denkmal, der Gedanke
und Gebet gewordene Stein im Aether;
besonders ergreifend ist der Eindruck, wenn
am Morgen die Majestät der Linien dieser
Riesenfassade sich aus beut Nebel allmäh-
lich abhebt.

Es ist unmöglich, sich eine Idee von
dem Glanze des ganzen Bauwerks in
seinem Aeußeren zu machen, wenn man
nicht in seine Flanken eindringt, seine
Turme, Terrassen, Galerien durchwandert.
Wie eigenartig war es mir p Mute, als
ich längs dem spitzengewobenen Gemäuer
an den Höllenfratzen vorbei, deren eine
mit ihren Klanen ans der Balustrade die
Zunge heraus ans Paris streckte, bis zu
den Mauern der beiden Zwillingsbrüder
kam, in» den großen »bourdon« zu be-
suchen. Er hat einen liefen, düstern Klang,
als ob ihm die unheilvolle Stimme da-
von geblieben, das; er der von St. Ger-
main l'Auxerrois Antwort gab, als jene
die Bartholomäusnacht eiuläntete. Noch
heute existiert in Paris das Sprichwort,
das sich ans der Hexenzeit herleitet:
„Wenn man dich anklagt, die Glocke der
Notre-Dame gestohlen zu haben, so lauf'
lieber gleich davon." Der Umfang der
Turme erweist sich hier oben so bedeutend,
das; man auf ihnen wie von einer Platt-
form oder Bergspitze niederblickt auf die
Ungeheuer und das Geäste; alles, Bogen
und Türmlein, erscheint uns als ein Ge-
flechte von Blumen für die Himmels-
königin. Diese außerordentliche Klarheit
wirkt zusammen mit der riesigen Steige-
rung der Maße. Die Pariser Kathedrale
ist das erste Beispiel dieser bisher unge-
wöhnlichen Höhe (106 Fuß). Sie erscheint
fast wider den Willen ihrer Meister so
hoch gesteigert, nur durch die Menge der
einzelnen Abteilungen, und ungeachtet jede
von ihnen möglichst niedrig gehalten ist.
Erst nach und nach, wo man das Strebe-
spstem würdigen zu können gelernt hatte,
überließ man sich ungehindert dem Be-
streben nach freien, luftigen Verhältnissen,
das in der Zeilrichtung begründet lag.
So erhoben sich dann die Gewölbe der
Kathedralen von Chartres zu 108, von
Reims zu 115—120, von Amiens zu 132
und von Beanvais gar zu 146 Fuß.
Das war daS Aeußerste!

Außerordentlich interessant wäre es
auch, das große ikonographische Ensemble
der Westfassade einer genauen Betrach-
tung zu unterziehen. Allein wir finden
dazu Gelegenheit bei dem Besuch der
Kathedralen von Amiens, Chartres und
anderer, wo dieses große Werk der
Ikonographie nicht nur uachgeahmt, son-
dern wesentlich gesteigert wurde. So bietet
uns die Pariser Kathedrale im Aeußereu
eine Eurythmie ohne Rivalen; die innere
Schönheit ist nicht geringer. Es ist
ein Bangen und ein Aufjubeln vor Freude,
wenn man in das Innere des Domes eiu-
dringt und in diese gewaltige Perspektive
seine Blicke schweifen läßt. Das Auge
fliegt durch die rings um den Chor ge-
wundenen doppelten Sänlengänge empor
an den nnermesseuen schlanken Stockwerken
und Galerien über einander, deren letzte
mit ihren kühnschwebeuden Bügen und
Kolonnen fast beflügelt erscheint. Je öfter
man wiederkehrt, desto mehr staunt man
diese gigantischen Verhältnisse an. Wir
müssen uns erst an sie gewöhnen, wir
haben keinen Maßstab für sie; es ist in
der Tat ein Wunderbau, majestätisch,
nicht ungeheuer, trotz der kolossalen Massen,
viel zu leicht und zu harmonisch.

Das Schiff mit seinen zylindrischen
Pfeilern und seinen Galerien, das ebenso
wie der ganze Chor doppelte Seitenschiffe
hat, bildet uns den vollständigsten und
reichsten Ausdruck des Stils der Pariser
Gegend. Die dicken monostylen Säulen
tragen eine Welt ans ihren Schultern, und
die Körbe des Blätterwerks ihrer Kapitale
lassen an die gigantischen Kolonnaden des
alten Aegyptens denken. ES ist eia außer-
ordentlich lebhafter Organismus im ganzen.
Zwei Säulenreihen dienen als Träger der
Seitenschiffe; diese sind aber abwechslungs-
weise monostyl oder umgeben von vier
Halbsäulen. Die Tribüne des Chores
! setzt sich im Schiff und im Transept fort,
ebenso groß und monumental. Sie ist
erhellt durch Halbfenster mit Rosen, welche
ein überschwengliches Licht verbreiten.

So bildet auch das Schiff eine der
schönsten Konzeptionen mittelalterlicher
Architektur,; sie vereinigt in der vollendeten
Harmonie die stolze Größe des 12. Jahr-
hunderts mit den Kombinationen des 13.,
mit den Härten der endenden Kunst die
 
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