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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 21.1903

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Nr. 8
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Schermann, Max: Wanderungen durch einige Kathedralen Nordfrankreichs, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15936#0093

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in Vergleich bringen mit irgend welchen
Produkten der alten oder der italienischen
Kunst des 15. Jahrhunderts. Nainentlich
sind die großen Figuren, die fast alle in-
takt sind, außerordentlich beinerkeusmert.
Auf dein Truiueau leuchtet noch diese herr-
liche Figur Christi, die mau mit Recht
,,Ie Beau Dieu d’Aniiens“ nennt. In
der luxuriösen Ornamentalion der drei
Portale erscheinen alle jene fabelhaften
Wesen, die in den mittelalterlichenBestiarien
beschrieben sind. ES wäre hier interessant,
die keltischen Nachklänge herauszuschäleu,
die sich mit dein christlichen Dogma zu-
sammeufiuden und in diesem Ilniversalkon-
zert unverkennbar miderkliugeu. Diese Tier-
signren mit ihrem fremden Symbolismus
möchte man fast als die Erinnerung einer
entschwundenen Welt, einer versunkenen
Schöpfung ansehen. Besonders interessant
sind die Skulpturen der Porte doree im
südlichen Ouerschiff, die wie das Portal
selbst auS dein zweiten Drittel des 13.Jahr-
hunderts stammen, also um etwa 25 Jahre
später sind, als die der Fassade von Paris.
Ihr Ensemble stellt sicherlich eine der voll-
endetsten, delikatesten und reinsten Schöpf-
ungen dar, welche uns die gotische Bild-
hauerkunst hinterlassen hat.

Die hl. Jungfrau ist für die fran-
zösischen Bildner immer die wohltätige und
fruchtbare Beraterin gewesen. Nach ihr
richten sie schon mehr als zwei Jahrhun-
derte ihre Gedanken und suchen mit einer
naiven Begeisterung die Berivirklichnng
ihres Ideals in allen Formen, in allen
Allsdrücken — von der strengen und ernsten
Jungfrau des Portals von Paris bis zu
der fast „eigensinnig-widerwärtigen" der
Brücke de Foncheres Troges — mtb in dem
verschiedensten Material: Stein, Holz,
Marmor, Bronze, Elfenbein, C'lolb, Silber.
So ausgedehnt man diese Madonnenstudien
nini auch treiben mag, die nach künstleri-
schen mtb kulturgeschichtlichen Gesichts-
punkten wertvolle Resultate zeitigen wer-
den, ich glaube nicht, daß unter den tausend
Darstellungen der Mnttergottes eine edlere
und ausdrucksvollere sich fände, als die,
welche wir an jener goldenen Pforte
in Amiens bewundern. Die Bewegung
des Körpers ist von unsagbarem Reiz, die
Falten des Gewandes fallen mit einer
himmlischen Eleganz und lassen das Na-

türliche und die Grazie der Pose zur voll-
endetsten Wirkung kommen; dieses wun-
derbare Lächeln, das Leonardo da Vinci
in seiner Monna Lisa nachgeahmt hat,
belebt das Gesicht, dessen Weichheit durch
die leichten Schatten des Schleiers noch
erhöht ist. Drei Nimbustragende Engel
und zwei reiche Blätterfriese vervollständigen
diese eigenartige Komposition.

Angesichts dieser Pracht und namentlich
bei der architektonischen Vollendung der
Kathedrale von Amiens ist es für uns
sehr begreiflich, das; wir sie an den; größten
uitb prachtvollsten gotischen Bau Deutsch-
lands, dem Kölner Dom, der 1248
begonnen ilnd 1332 eingeweiht wurde, in
manchen Stücken wiedererkenneu; nament-
lich bedeutet der Chor von Köln geradezu
eine Repetition des französischen Vorbildes;
auch das Münster in Freiburg, das
bis auf Chor und Turm 1272 vollendet,
und das von Straßburg, dessen Lang-
seite 1275 gebaut und dessen Fassade 1277
von Erwin von Steinbach gegründet und
in beiden unteren Dockwerken nach seinem
Plan ausgeführt wurde, zeigt den Einfluß
der französischen Gotik unleugbar! Außer-
ordentlich groß mar die Wirkung dieses
typischen Werkes namentlich in Frank-
reich. Am Schiff von Saint Denis, an
den Chören von Meaux, von Troyes, ja
an der ganzen Anlage der Kathedralen
von Clermont, von Limoges, von Saint-
Onen in Ronen und vielen anderen ist
! das Vorbild unverkennbar.

Den kühnsten Gedanken, den die Kathe-
drale von Amiens jemals bei einem Bau-
meister erweckte, hat der Architekt der
Kathedrale von Beanvais gefaßt. Man
ist förmlich gebannt, wenn man mitten
in der sonst so nichtssagenden und wenig
eindrucksvollen Stadt diesen Riesenchor
mit seinem angehängten Querschiff in fast
unendliche Dimensionen sich erheben sieht.
Auf den ersten Blick tritt uns der Plan
des Chores von Amiens entgegen, aber
in solch' gesteigerten Verhältnissen, daß
man sich des Eindrucks der Willkür, ja
des Uebernrntes nicht entschlagen kann.
Der Architekt der Kathedrale von Beau-
vais, Endes de Montrenil, hat sich ohne
Zweifel die Aufgabe gesetzt, die kolossalen
Dimensionen von Rheims und Amiens
vergessen zu lassen; die Kühnheit der
 
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