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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 7
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Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0077

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Hcrausgegcbeii und redigiert von Pfarrer Detzcl in St. Lliristina-Ravensbnrg.

Verlag des Rottenlnirger Diözesan-Annstvereins;
Ronnirisfionsverlaa von Friedrich Alber in Ravensburg.

. Jährlich 12 Nummern. Preis durch die Post halbjährlich M. 2.05 ohne

tlfvV. 7. Bestellgeld. Durch den Buchhandel sowie direkt von der Berlagshändlung I()00
" i Friedrich Alber in Ravensburg pro Jahr Ml. 4.10. '

(Ein neuentdecktes Totentanzgemälde
aus dem Mittelalter iu der deutschen
Reichshauptstadt.

Von Or. Anton Nägele iu Riedliugeu.

Wer zum erstenmal die Berliner
Marienkirche im Zenlrnm der Mil-
lionenstadt betritt, dem bietet sich gleich
in der Vorhalle ein ungeahnter Anblick
dar. Name und Bauart dieses alten
Mariendomes verraten jedem Kundigen
alsbald die katholische Vergangenheit; die
Verwunderung, mitten im Häusermeer der
modernen Großstadt am „Neuen Markt"
solch mittelalterliches Bauwerk zu finden,
steigert sich zum Staunen und zur Be-
wnnderung. Wie gebannt bleibt das
Auge des fremden Beschauers an den
scheinbar neu bemalten Wänden der Vor-
halle haften; wo er eben noch das frisch
pulsierende Leben in seinen tausend Ge-
stalten gesehen, wo der Lärm des Groß-
stadtverkehrs noch über der Schwelle der
Kirche an sein Ohr dringt, tritt ihm auf
einmal das Bild des Todes in der
die Kinder der Neuzeit so seltsam an-
mntenden Totentanzgestalt entgegen. Media
vita in morte sumus! Ein erschüttern-
deres, denkwürdigeres Memento mori
könnte ich mir kaum denken; und doch,
wie um den starren Gegensatz in der
mittelalterlichen Idee vom Tanz des Todes
mit den Lebenden unversöhnlich zu ver-
schärfen, tönt daS Memento vivere
hier mehr als sonst in allen Tonarten
ans Ohr. Diesen Kontrast hat sicherlich
auch das Mittelalter trotz seiner wesent-
lich anderen Lebensanschauung gefühlt,
auch die Vorfahren der heutigen aufge-

klärteren Berliner, die einst glücklich im
Besitze des ererbten Väterglanbens das im
13. Jahrhundert mit Stadtrecht ausge-
stattete Fischerdorf an der Spree bewohn-
ten. Nur haben diese, nach der wachsen-
den Beliebtheit jener grausen Todesdar-
stellnngen zu schließen, diesen Kontrast
nicht als so schrecklichen Mißton in Welt
und Leben empfunden, wie ihre im Glau-
ben und wohl auch in den Sitten meist anders
gearteten Nachkommen. Dieser veränder-
ten Geistesrichtung und nicht weniger der
auf historischem und künstlerischem Gebiet
herrschenden Unproduktivität und Ver-
ständnislosigkeit des 17. und 18. Jahr-
hunderts, die ja der höchsten Kunstwerke
nicht geschont, verdankt der altehrwürdige
Vilderzpklus der Marienkirche aus dem
15. Jahrhundert seine blendend weiße
Uebertünchung und damit sichere Er-
haltung. Seine Auferstehung nach
mehr als hundertjähriger Vergessenheit am
Ende des letzten Jahrhunderts, mag sie der
Umschwung der geschichtlichen, .kunsthisto-
rischen oder der religiösen Interessen in
weiteren kirchlichen und bürgerlichen Kreisen
der heutigen Neichshauptstadt veranlaßt
haben, begrüßen alle, wenn's auch nicht
alle verstehen und verstehen wollen —
eine der merkwürdigsten Darstellungen der
Totentanzidee ist so neben wenigen anderen
mittelalterlichen Kunstwerken ins 20. Jahr-
hundert hinübergerettet worden.

Es wäre verlockend, im Lichte neuerer
und neuesten Forschung den neuentdeckten
Totentanz der Berliner Marienkirche zu
betrachten und unserem Gemälde die
Stellung anzuweisen, die ihm in der
eigenartigen mittelalterlichen Ausgestaltung
 
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