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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 7
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Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0079

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67

Naumann, der Franzosen Peignot und
Langlois, der Italiener Fiorillo und Val-
lardi, des Engländers Douce haben für
ihre Zeit das Material hinlänglich er-
schöpft, ohne daß die Folgezeit mit ihnen
gleichen Stand gehalten hätte. Beginnen
wir alsbald mit der B e s ch reib u n g
unseres Berliner Totentanzes, der erfreu-
licherweise dank seiner merkwürdigen Schick-
sale zu den besterhaltenen Darstellungen
dieser Art gehört.

Tritt man, vom großen Berliner Nat-
hans oder dem ebenfalls nicht weit davon
entfernten K. Schloß unter den Linden
herkommend, am westlichen Hauptportal
in die altehrwürdige Marienkirche ein, so
fesselt den Blick gleich in der Vorhalle
linker Hand der lange Neigen der mit
dem To de tanzenden 28 Gestalten, welche
die Flächen der Strebepfeiler und der
dazwischenliegenden Wandfelder ihres nord-
westlichen Flügels bedecken. ES ist ein
langer, ergreifender Zng der Repräsen-
tanten aller menschlichen Stände; dem
einen schauerlichen Ziele, dem Grabe,
führt sie alle der Tod zu, eine dürre
Gestalt mit nacktem Totenschädel, ein
weißes Leichentuch über Kopf oder Schul-
ter geworfen, ein Totengerippe in wenig
wechselnder Gestalt und Haltung, die noch
wenig Kenntnis der Anatomie verrät.
Jeden einzelnen ladet er zum Tanze auf
einer grünen Ebene ein, mitten aus dein
Leben führt er seine Opfer — die einen
ergreift er bei der Hand, die andern
schiebt er an der Schulter vorwärts, alle
folgen ihrem Führer widerstandslos in
stiller Ergebung.

Unser Totentanz, die stumme Predigt
von Sterben und Vergehe», beginnt »rit
dem Bilde eines Predigers auf der
Kanzel; ein Franziskaner in brauner
Kutte, mit Tonsur und zurückgeschlagener
Kapuze wendet sich an den links von
seiner gotisch geschmückten, zierlich gelbe»
Kanzel an den, dem Range nach auf-
steigenden Neigen von 14 Geistlichen und
den durch eine Kreuzesgruppe getrennten
14 weltlichen Personen. Seine Linke hat
der Redner mit bezeichnendem Gestus er-
hoben und auch heute noch, nach fast fünf
Jahrhunderten, scheint er die Kirchenbe-
sucher auf die gemalte Predigt, das
Bild und seine Bedeutung hiuznweiseu.

Den ernsten Inhalt seiner Predigt lassen die
wenigen erhaltenen, unter seinem Bilde
angebrachten niederdeutschen Verse ahnen.
Er spricht „von des Todes Pfeifen schril-
lem Ton, der Glocken Klang am Grabe
und der Freunde schnellem Vergessen".
Ansfallenderweise gehört der Prediger des
Berliner Totentanzes nicht dem eigent-
lichen Predigerorden, den Dominikanern,
an; die fratres pradicatores, die heute
in der Reichshanptstadt eine klösterliche
Niederlassung besitzen, hatten im 15. Jahr-
hundert in der brandenbnrgischen Stadt
Berlin kein Kloster, wohl aber in beni
später mit diesem vereinigten Nachbar-
städtchen am andern Spreeufer, Cölln.
Unterhalb der Kanzel liegen zwei ab-
schreckende Gestalten, Mischbildnngen aus
menschlichem Oberkörper und drachen-
artigem Unterkörper; die eine der fratzen-
haften Gestalten bläst die Dndelsackpfeife,
ivohl symbolische Darstellung des Teu-
fels, des Musikanten des Todes, der mit
höllischer Musik zum Tanz aus. dem Dies-
seits aufspielt.

Der Kanzel zunächst beginnt den Reigen-
tanz der Küster, eine jugendliche Gestalt
in langem, blauem Untergewand und
weißem Chorhemd darüber, in der Rechten
den Schlüsselbund. Der ihn zu»c Tanze
abholende Tod faßt ihn an der linken,
wohl ein Buch haltenden Hand, redet ihn
im folgenden, aus dem Niederdeutschen
ins Hochdeutsche übersetzten, unter dem
Bild erhaltenen Versen an:

„Herr Küster von der Kirchen, kommet her,
Ihr seid hier gewesen als ein Vorbeter.
Ich will voran den Tanz mit Euch springen,
Daß Euch die Schlüssel alle sollen klingen.
Leget das Zeitenbuch (Tidebnck) schnell
ans der Hand,

Ich bin der Tod, ich nehme niemandes
Pfand."

Flehend erwidert der Ueberraschte:

„Ach, guter Tod, friste mir doch noch ein
Jahr,

Denn mein Leben ist noch gar unklar!
Hätte ich ivohl viel Gutes getan.

So möchte ich nun fröhlicher mit dir
gan (gehen).

Ach, nun soll ich nicht länger bleiben!
Das Leiden Jesu mög' helfen meinem
Scheiven,"
 
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