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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 8
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Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0090

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78

Leget das falsche Maß, aus Eurer Hand,
Eure Falschheit ist ja bekannt;

Eure Zeit ist um- legt ab das blaue

Aarelt,

Folget nach, Ihr seid wohl zum Tanz

bereit!"

Betrüger:

„Ach, greulicher Tod, bist du schon hier?
Nimm den Toren in Gnaden und komme

her.

So doch .... zu kurz war mir die

Zeit,

Ach, wäre ich dieser falschen Maße quitt.
Dafür ich nun leiden muß große Pein!
.Hilf mir, Christus, ans dieser Not! mag's

so sein!"

Strittig zwischen dem ersten Entdecker
und dem späteren Beschreiber des restan-
rierten Bilderzyklus ist die Auffassung der
nächsten Figur, von der nur zwei Beine,
das eine grün, das andere gelb, und
Aermelzipfel mit Kugeln, Reste eines
Schellengewandes, sichtbar sind, sowie ein
Gefäß, das einem Kochkessel oder eher
einer Pauke ähnlich sieht. Wenn das
Wort liaveiaclr nach Haltaus, Glossa-
rium Germanicum medii aevi richtig
Hofrecht Ständchen gedeutet ist, und
nicht wie Lübke sehr problematisch als
Haferbrei aufgefaßt wird, so hätten wir
als zweitletzte Figur den Narren.

Die Anrede des Todes ist nur frag-
mentarisch erhalten. Der N a r r ant-
wortet :

„Ach, was wollt Ihr machen, Ihr fauler

Knochen,

Laßt mich doch noch leben, wenn das sein

mag;

Ich will Euch ein Ständchen bringen.
Das mag leider nicht helfen, mir armen

Knecht.

Drum ruf ich zu dir: „Christe, hilf mir

recht,

Ich bin gewesen ein fauler Knecht"."

Bon der letzten Figur sind nur noch
einige Spuren zinnoberroter und grauer
Farbe sowie die Anfangsworte einiger
Zeilen erhalten. Bild und Text genügen
durchaus nicht zu einer Ergänzung, da-
gegen berechtigt eine Vergleichung mit
anderen erhaltenen Totentänzen zu der
sicheren Annahme, daß die 28. vom Tod
abgeholte Gestalt ein Kind oder die

M u t t e r in i t eine m K i n d e war. So
heißt es z. B. im Lübecker Totentanz:
„Och, wat schal ik dib kiud vorlnen
mente Ihn dauzen eit mag et nicht vor-

staen

Mit diesem letzten stummen, stillen Bilde
endet der Totentanzreigen der Weltlichen,
und überhaupt das ganze Gemälde, das
in seiner Idee wie in deren Durchführung
ein eigenartiges Denkmal mittelalterlicher
katholischer Kunst in unserer modernen
Reichshauptstadt bildet.

Im südlichen Teil der Vorhalle sah ich
zur Zeit meines Besuches noch zwei andere
altehrwürdige Zeugen der früheren Väter-
glaubens: zwei herrliche Tafelbilder, die
Schmerzen Mariä darstellend. Wie viele
Besucher der heutigen, im Glauben von
jener Zeit geschiedenen „Mariengemeinde"
mögen, wenn sie durch diese so eigenartig
geschmückte Vorhalle zur Anhörung des
Evangeliums gehen — eS waren ihrer an
dem damaligen Sonntag in den weiten
gotischen Hallen nur wenige zu sehen —
über jenes Monument mittelalterlicher
Weltanschauung, mit oder ohne besseres
Wissen, spötteln, wie viele bedenken, daß
j über allem Wechsel der Zeiten religiöser
' und künstlerischer Weltanschauung eines
unverändert geblieben ist und bleiben wird :
der Imperator mors wird auch sie mit
derselben Unerbittlichkeit wie jene Vor-
fahren einst znm Totentanzreigen abholen.

Die chronologische Fixierung
unseres altehrwürvigen Bilderzyklus hängt
in erster Linie von der Einsicht in die
B augeschichte der Kirche ab, die
jenen seltenen Schmuck in ihrer Vorhalle
trägt. Keine Inschrift, keine Chronik,
keine Urkunde meldet uns vom Namen
und Werk des Künstlers, aber ebenso
wenig vom Ursprung und Baumeister der
Marienkirche. Der älteste kirchliche Ban
im ehemaligen wendischen Fischerdorf an
der Spree ist die Nikolaikirche, die
in ihrem westlichen Teil Spuren uralter
Anlage, den massigen und schlichten Gra-
nitban der Mitte des 13. Jahrhunderts
aufweist, das erste Denkmal christlichen
Glaubens und Lebens der zukünftigen
Großstadt. Ihr Propst Symeon wird als
erster Geistlicher Berlins 1244 genannt,
das unter der gemeinsamen Regierung der
 
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