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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 9
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Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0098

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86

den Kirchenschiffen der ganzen Breite nach
getrennt, zur bloßen Vorhalle herabgesetzt
und die ursprüngliche Bedeutung des herr-
lichen Raumes verwischt. Emporen wur-
den hier angelegt, zu denen je eine breite
Treppe von den beiden Seitenflügeln der
Mittelhalle ans hinaufführte. Durch Anf-
sührnng von Empore und Treppe
mußten aber manche Teile des Totentanz-
gemäldes teils zerstört, teils verdeckt wer-
den. Erst nach der Wiederentdeckung des
Bildes im letzten Jahrhundert wurde die
eine Treppenwange von der Wand der
nördlichen Tnrmhalle etwas abgerückt und
so der durch die Treppenaulage verdeckte
Teil des Totentanzes freigelegt. Von den
Altären ist jede Spur verschwunden. Viel-
leicht — es ist nur reine Vermutung
meinerseits — stammen die zwei in ihrer
alten Farbenpracht restaurierten Tafel-
bilder mit Darstellungen aus dem freu-
denreichen und schmerzhaften Rosenkranz, die
Pietät, Konservatismus und ein den Toten-
tanz freilich nicht verschonender Kunstsinn
in der Vorhalle hängen gelassen, von
einem der Altäre des Vorraums oder vom
Schiff und Chor. Letzterer hat auch ein
ehernes Taufbecken aus katholischer
Zeit aufbewahrt, das auf vier lebendig
charakterisierten Drachen ruht, und mit den
halb erhaben gearbeiteten Gestalten Christi,
Mariens und der Apostel geschmückt ist,
und in gotischer Minuskel die Inschrift
trägt:

Anno dom. MCCCCXXXVII ik liebte
ene dope werlicken ik dene den armen
also den riken.

Alle übrigen Kirchenschätze sind den Stür-
men der Reformation zum Opfer gefallen,
doch der Name der Marienkirche, unser
lieven Fraweu Kirk, ist geblieben, heute
noch ein Denkmal des alten Väterglan-
beus der Hohenzollernlande. Ihr merk-
würdigstes Denkmal echt mittelalterlichen
Glaubenslebens, ihr Totentanz, verdankt
ebenso wie in unserem Land manch be-
deutsames Gemälde seine Erhaltung nur
der gründlichen Tünche, die öfters anf-
gefrischt, drei Jahrhunderte den Blicken es
entzogen. Mag das Bild des Todes oder
das Denkmal des alten verdrängten Pa-
pistenglanbens an der Vorhalle der Ma-
rienkirche die Anhänger des neuen Evan-
geliums in Berlin einst abgeschreckt haben.

die modernen Berliner schreckt es nicht
— die Tausende zieht auch das reine
Evangelium nicht mehr in die alten und
nicht in die neuen katholizismns- und
oft christentumsreinen Tempel der Mil-
lionenstadt. Immerhin ist von Interesse
Lübkes, des gefeierten Kunsthistorikers,
Urteil über Berlins drei mittelalterliche
Kirchen, wonach die Klosterkirche (Fran-
ziskaner) die bangeschichtlich merkwürdigste
und älteste, S. Nikolai die stattlichste
(wegen der reicheren Choranlage mit Um-
gang), S. Marien die schönste ist in
Hinsicht ans die Verhältnisse des Innern
(Totentanz S. 8).

Das ist also der geweihte Raum, der
mitten in einer Großstadt des 20. Jahr-
hnnderts ein altehrwürdiges Totentanz-
gemälde aus ferner Vorzeit Tagen birgt.
Ein verborgenes Dasein, und nur diesem
hat es seine leidliche Erhaltung zu
verdanken, mußte es drei Jahrhunderte
lang führen. Während von den mittelalter-
lichen Denkmälern dieser eigenartigen reli-
giösen und künstlerischen Anschauung nur
fünf gemalte und vier plastische Dar-
stellungen, meist noch sehr beschädigt, auf
uns gekommen sind, gehört der neu-
gefundene Berliner Totentanz zu den best-
er h a l t e n e n wie auch edelsten Wand-
gemälden jener Art. Merkwürdig ist die
Entdeckung des vollständig seit der
Reformation verschollenen Kunstwerkes.
Die Tünche, die nach der späteren Los-
schälung viele Jahresringe verriet und
wohl ans der Reforinationszeit stammt,
hatte jede Spur verwischt, an den Wänden
des Gotteshauses sowohl wie in der Er-
innerung der Gemeindeglieder. Selbst die
von Donce, Tire Dance of Death,
London 1830, p. 48, erwähnte, bis jetzt
nicht bestätigt gefundene Hindeutnng auf
das Werk in dem Reisewerk eines anderen
Engländers Misson führte zu keinerlei
Nachforschungen. Im Herbst des Jahres
18 6 0 führte ein Zufall den ausgezeich-
neten Architekten A. Stüler auf eine
Stelle in der Wand der Turmhalle, welche
unter der modernen Tünche einen alten
Stnckttberzng verriet. Dem Scharfsinn
des von Lübke gerühmten Herrn fiel der
friesartige S t u ck st r e i f e n gegenüber den
sonst unverputzten und später nur über-
tünchten Teilen der Backsteinwände auf
 
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