Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Your session has expired. A new one has started.
Metadaten

Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

DOI issue:
Nr. 10
DOI article:
Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [4]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0110

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
98

der unter den einzelnen Figuren ange-
breichten Verse in n i e d e r s ä ch s i s ch e r
Mundart wie ehedem zu empfänglichen
Herzen. Das Geschick der Bilder mußte
auch der Text in noch höherem Maße
teilen. An vielen Stellen war er ganz
unleserlich geworden, an anderen ganz
verschwunden: „Für die Entzisfernng des
Textes habe ich alle Mühe und Hin-
gebung anfgewandt, welche eine so um-
fangreiche und durch häufige Zerstörung,
stellenweises Ansbleichen und undeutliche
Züge bedeutend erschwerte Arbeit erfor-
dert", berichtet ohne Ueberhebung und
Selbstlob der erste Entdecker (Lübke,
S. 26 >. Geradezu rührend ist es zu
hören, welche Mühen und Gefahren mit
Lübke besonders der als Stütze gewon-
nene gediegene Kenner der Totentänze,
Professor Maß in an n, geteilt hat. Trotz
der grimmigen Kälte des Winters 1860
habe der von einem Schlaganfall noch
nicht erholte Professor — ich kenne von
ihm ein Werk über die Baseler Toten-
tänze (Stuttgart l 847) und über Lite-
ratur der Totentänze (Leipzig 1840) —
manchen Tag in der eisigen Tnrmhalle
zngebracht und mit größter Gewissenhaf-
tigkeit Ltibkes Entzifferungen unterstützen,
ergänzen, berichtigen und vollenden helfen.
Trotzdem sind bei den mannigfachen Zer-
störungen durch den Zahn der Zeit und
Menschenhand zahlreiche Lücken geblieben.
Manches konnten nach späteren Zeug-
nissen diese ersten beiden Pfadfinder noch
deutlich lesen, was für kommende For-
scher unleserlich geworden ist; anderes da-
gegen ist bei der späteren Renovation
wieder zu Tage getreten. Sowohl, durch
neue Untersuchungen als auch durch
Heranziehung anderer, besser erhaltener
oder handschriftlich überlieferter Toten-
lanztexte, besonders des alten Lübecker,
gelang es den» Architekten Prüfer,
weitere Stellen zu ergänzen und einige der
Lübkeschen Lesarten zu berichtigen. Doch
fehlte fast die Hälfte von den ursprüng-
lichen 362 Versen von denen zweimal
6 Zeilen ans jede Person, auch die
Kreuzesgrnppe (acht sichtbar), ans den
predigenden Franziskaner 14 als Ein-
leitung zum Ganzen dienende Verse kom-
men. Der Anfangsvers jeder Person,
auch jeder Todesgestalt, die jedesmal mit

den ersten 6 Versen die Anrede beginnt,
ist durch rote Initiale bezeichnet. Die
Schrift, von der unsere lithographische
Reproduktion Proben stets beigibt, ist die
gotische Minuskel des 15. Jahrhunderts
in einfacher, kräftiger unverzierter Form,
eine monumentale Schriftprobe aus der
gleichen Zeit wie das Gemälde, von ur-
kundlicher paläographischer Bedeutung,
ohne jede Spur von Ueberarbeitnng, „ein
schriftliches Denkmal jener Zeit, das auch
in sittengeschichtlicher, sprachlicher und
dichterischer Hinsicht manches Belehrende
darbietet" (Lübke, S. 24).

Nach seiner in h a l t l i ch en Seite be-
trachtet, entbehrt der Text in manchen
Partien nicht eines gewissen poetischen
Reizes, der über einzelne naive, originelle
Züge einer dann ttnd wann zu Tage
tretenden individuell subjektiven Auffassung
des Lebens und seiner vielgestaltigen Be-
ziehungen ansgegossen ist. Beweis dessen
ist z. B. die kräftige, urwüchsige Hervor-
hebung charakteristischer Züge aus dem
Leben des Pfarrherrn, Predigers, Jun-
kers, Wucherers, Kaufmanns und Bauers.
Das Poetische wird natürlich durch das
Ethische ausgewogen und manchmal
aufgesogen, ohne in die verwässernde
Breite und den „kapuzinerhaften Predigt-
Ion der späteren 21zeiligen Lübecker Drucke
von 1496 zu verfallen" (vgl. Lübke, S. 36).
Solche Volkskunst in Malerei und Dich-
tung hält sich nicht immer an die Ziegeln
der Schule, sieben einer gewissen Ein-
förmigkeit kommt auch die Abwechslung,
neben dem Typi s ch e n das Individuelle,
neben der moralischen Paränese auch das
D r a m a t i s ch e und Charakteristische znm
Durchbrm.-. Das letztere Element finde
ich nicht nur in dem (täten Wechsel von
Anrede und Antwort, der öfters schlag-
fertigen Begründung von Einladung und
j Weigerung im Dialog, der an manchen
j Stellen an die Stichomythien der klassischen
! Dramen erinnern möchte; der Dichter hat
j auch die tragischen Momente oft hervor-
! gehoben, in denen die Katastrophe ein-
■ tritt, fdßos und iI/tiEog dringt ans uns ein
' aus Bild und Wort, die die stärksten
j Kontraste ans Leben und Sterben uns
vo'r Auge und Herz stellen, Abschiedsrnf
j und Abschiedsleid in den schmerzlichsten
1 Situationen: media vita mors!
 
Annotationen