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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 10
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Naegele, Anton: Ein neuentdecktes Totentanzgemälde aus dem Mittelalter in der deutschen Reichshauptstadt, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0111

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Die Ansprache des Todes beginnt immer
mit dem Titel des znm Totentanz Aufge-
forderten ; höflich und respektvoll redet der
Tod mit den Repr ä senk anten b er-
ge i st l i ch e n und w e l t l i ch e n S t ä n d e
per „Ihr", 6^ plattdeutsch, nur der
Baner muß sich das „Du" gefallen lassen
trotz des Ickcrre wedder bure (Herr
Vetter Bauer). In der Antwort an den
Tod bedienen sich die Lebenden des ver-
traulichen Du. Sie alle stimmen Klage
an über ihr unerwartetes Geschick, ge-
denken ihrer Sünden, trauern über das
unvermeidliche Schicksal, ergeben sich in-
des meist unter Empfehlung an Gottes
Barmherzigkeit dem Nnf des Todes. Die
in vielen mittelalterlichen Texten und
Bildern oft über die Schranken deS nach
unseren Begriffen Erlaubten hinausgehen-
den Karikaturen, ironischen und sar-
kastischen Darstellungen fehlen im Ber-
liner Totentanz fast gänzlich. Nur an
zwei Gestalten tritt diese Neigung her-
vor. Der Bauer und der tnach Lübke)
Koch oder (nach Prüfer eher) Narr machen
einen Vestechuugsversuch am Tod, ähn-
lich wie auf einem Neliefbild in San
Pietro Martina zu Neapel der Kaufmann
znm Tode in des diabolischen Versuchers
Rolle sagt: „ck'utto ti voglio dare, se

mi lasci scampare" (Lübke S. 26).

Eine von den bisherigen Forschern und
Herausgebern des Berliner Totentanzes
auffallenderweise nicht gemachte Beobach-
tung verdient wohl noch angesügt zu
werden. Gleich wie ein brauner Streifen
um alle Bilder einen einzigen gleich-
förmigen Nahmen bildet, und die Anfänge
der Dialoge gleiche Initialen kennzeichnen,
so hat der Dichter das Schematisierende
auch im Wortlaut znm Ausdruck gebracht
und vermehrt so den Eindruck des all-
gewaltigen, alle in gleicher Weise über-
wältigenden Todesloses. Die sechs Ant-
wortverse der Lebenden an den Tod be-
ginnen nämlich alle mit dem Klage r u f
och (plattdeutsch = ach); sicherlich ist
deshalb die einmalige Lesart Prüfers in
Vers 273 (ach) auch abgesehen von
paläographischen Gründen unrichtig. Nicht
so ganz ausschließlich gleichlautend ist die
Anrede des Todes, die meist mit Icker
und der Nennung des Lebensberufes au-
fäugt. Jene an sich mechanisch klingende ;

Gleichmäßigkeit fügt sich indes trefflich
in die Gesamtanlage von Malerei und
Dichtung unseres Werkes ein. Wie mit
der porträtartigen Auffassung zahlreicher
Köpfe der Totentanzgestalten die typische
Behandlung von Gestalt und Gewand sich
paart, -so vereint sich auch im Text mit
den lebensfrischen Zügen eines erwachten
Naturgefühls und individueller Charakter-
zeichnuug eine gleichmäßige, ernste Ruhe:
alle Unterschiede nivelliert der Tod. Die
Schatten des alle treffenden Todesgeschicks
breiten sich über alle Höhen und Tiefen
des Menschenlebens aus; die wenigen
Wellen und Einzelschattierungen stören
nicht die ernste, feierliche Stille am Ge-
stade der Ewigkeit: „Staub ist alle Erden-
größe." Gediegene Kenner von Bild und
Text der Totentänze, wie Maßmann,
Lübke n. a., bewundern diese eigentüm-
liche Auszeichnung gerade unseres Werkes
mit seiner „stummen Poesie und redenden
Malerei" und heben die schlichte, gemüt-
volle Grundstimmung hervor, die sich
durch das Einzelne und Ganze mit
kleinen Schattierungen hindurchzieht, „wie
dieselben Gedanken mit verschiedenen
Wandlungen stets miederkehren, gleich
einer schlichten Volksweise, die aus man-
cherlei Umwandlungen doch immer un-
verkennbar dem Hörer entgegentönt. Wie
vortrefflich stimmt mit dieser ruhigen
Gesamthaltung im Texte die künst-
lerische Grundtönung des Gemäl-
des in seiner anspruchslosen Einfachheit
— es ist, als ob beide verwandte Er-
scheinungen aus gleicher geistiger Anlage
sich hier mit Notwendigkeit ergeben hätten"
(Lübke S. 38).

Welch hohe Bedeutung diesem monu-
mentalen Sprachdenkmal in neuester
Zeit beigelegt wird, ersehe ich aus zwei
Publikationen. In einem vorjährigen
Programm wird es sogar unter die
Quellen zur Geschichte der Mark Bran-
denburg für den Geschichtsunterricht an
höheren Schulen ausgenommen von Di-.
Spatz, „Quellenstelleu znr älteren mär-
kischen Geschichte als Hilfsmittel für den
Geschichtsunterricht", Wissenschaftliche Bei-
lage zum Jahresbericht der Hohenzollern-
schule in Schöneberg-Uerlin, Ostern 1904.
Seite 42 f. sind als Proben aus der
Dichtnng mitgeteilt und mit Anmerkungen
 
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