Lseransgegebeii und redigiert von Professor vr. Ludwig Bour iu Tübingen.
vertag des Rotteuburger Diözefan-Kuustvereius;
Kommifsiousverl-ia von Friedrich Alber in Ravensburg.
5*
Jährlich 12 Nummern. Preis durch die Post halbjährlich M. 2.05 ohne
Bestellgeld. Durch den Buchhandel sowie direkt von der Verlngshaudluug
Friedrich Alber iu Ravensburg pro Jahr M. 4.10.
190/.
Die «Lapitani der Dledicigräber
Michelangelos.
Von Dr. Anton Groll er, Freiburg i. Br.
Michelangelo hat einmal den Ausspruch
getan, daß ein Stein alle Gedanken und
Empfindungen eines Künstlers zu fassen
vermöge. Wir suhlen den vollen Ernst
dieses Wortes vor Gestalten wie den sechs
marmornen Menschen der Medicigräber.
Jeder einzelne von ihnen scheint das tiefe
Denken und das leidenschaftliche Fühlen
seines großen Schöpfers geerbt zu haben.
Die magische Wirkung dieser Gestalten
wird noch erhöht durch den heiligen Schalter
des Geheimnisses, das sie bergen sollen.
„Kein Mensch hat je ergründen können,
was die „Tageszeiten" hier bedeuten
sollen, wenn man sich llicht mit der ganz
blassen Allegorie auf das Hinschwinden
der Zeit zufrieden geben will" (Bnrck-
hardt). Wir haben gegenüber dem neuesten
Versuch, der Ruine ihr angebliches Ge-
heimnis zu entreißen, dargelegt, daß die
Tageszeiten durch ihre eigenartige Formen-
sprache unmittelbar ihren Sinn offen-
baren und damit ihre und der Flnßgötter
Anwesenheit rechtfertigen.') Kein Geheimnis
bergen sie, aber einen tiefen, gewaltig
i) Wie die Skizzen beweisen, hatte Michelangelo
wie anfangs beini Juliusgrab auch für die Me-
dicigräber gefesselte nackte Stehfiguren geplant,
aus denen später die Allegorien der Tageszeiten
entstanden. Die Gefesselten wollen nichts anderes
sein als spmbolische Vertreter der unter dem Sün-
denfluch seufzenden Menschheit. Die Stehfiguren
wurden durch liegende Gestalten ersetzt; anstatt
äußerer Fesseln wurde die Charakteristik als Skla-
ven des Sündenfluchs unter dem Gleichnis der
Tageszeiten in die Gestalten selbst verlegt.
tiefen und ernsten Sinn. (Vgl. Lit. Beil,
der „Köln. Volkszeitung" 1907, Rr. 5.)
Daß auch den beiden Herzogs-
statuen eine tiefere Idee zu
Grunde liege, d a r ü b e r i st h e n t e
alle Welt einig. Welches aber diese
Idee sei, das ist noch die Streitfrage.
Die neueste Dentnng der beiden Gestalten
als Mischung des sanguinischen
und cholerischen, p h l e g m a t i s ch e n
und melancholischen Tempera-
ments steht ilnd fallt natürlich mit der
Hypothese, daß die vier Allegorien auf
den Sarkophagdeckeln Verkörperungen der
vier Temperamente sein wollen. Wir
haben diese Ansicht an der genannten
Stelle abgelehnt. Den meisten gelten die
beiden Herzoge als Vertreter des tätigen
und des beschaulichen Lebens. Diese Ge-
genüberstellung ist ja der Renaissancezeit
ebenso gut bekannt, als der mittelalter-
lichen Symbolik. Michelangelo hat selbst
ihre ständigen Typen Lea und Rachel
schließlich am Grabmal des Papstes Ju-
lius II. neben Moses ausgestellt. Gar
seltsam aber dünkt uns der Einfall, Michel-
angelo habe die beiden Ducht, welche das
Feld tätigen Lebens kaum irgendwie be-
baut hatten, das beschauliche Leben nicht
kannten, als Vorbilder der beiden Wege
sittlicher Vervollkommnung verherrlichen
wollen. Ginliano, baarhäuptig, den Blick
stolz und frei ins Leben gerichtet, — der
Sohn des TageS! Lorenzo, das gesenkte
! Haupt beschattet mit dem schweren Helm,
! — der Sohn der Nacht! So deuten
andere nach einem Gedichtchen des Mei-
sters, in welchem zuerst gesagt ist, daß
i der Schöpfer der Zeit diese in Tag und
vertag des Rotteuburger Diözefan-Kuustvereius;
Kommifsiousverl-ia von Friedrich Alber in Ravensburg.
5*
Jährlich 12 Nummern. Preis durch die Post halbjährlich M. 2.05 ohne
Bestellgeld. Durch den Buchhandel sowie direkt von der Verlngshaudluug
Friedrich Alber iu Ravensburg pro Jahr M. 4.10.
190/.
Die «Lapitani der Dledicigräber
Michelangelos.
Von Dr. Anton Groll er, Freiburg i. Br.
Michelangelo hat einmal den Ausspruch
getan, daß ein Stein alle Gedanken und
Empfindungen eines Künstlers zu fassen
vermöge. Wir suhlen den vollen Ernst
dieses Wortes vor Gestalten wie den sechs
marmornen Menschen der Medicigräber.
Jeder einzelne von ihnen scheint das tiefe
Denken und das leidenschaftliche Fühlen
seines großen Schöpfers geerbt zu haben.
Die magische Wirkung dieser Gestalten
wird noch erhöht durch den heiligen Schalter
des Geheimnisses, das sie bergen sollen.
„Kein Mensch hat je ergründen können,
was die „Tageszeiten" hier bedeuten
sollen, wenn man sich llicht mit der ganz
blassen Allegorie auf das Hinschwinden
der Zeit zufrieden geben will" (Bnrck-
hardt). Wir haben gegenüber dem neuesten
Versuch, der Ruine ihr angebliches Ge-
heimnis zu entreißen, dargelegt, daß die
Tageszeiten durch ihre eigenartige Formen-
sprache unmittelbar ihren Sinn offen-
baren und damit ihre und der Flnßgötter
Anwesenheit rechtfertigen.') Kein Geheimnis
bergen sie, aber einen tiefen, gewaltig
i) Wie die Skizzen beweisen, hatte Michelangelo
wie anfangs beini Juliusgrab auch für die Me-
dicigräber gefesselte nackte Stehfiguren geplant,
aus denen später die Allegorien der Tageszeiten
entstanden. Die Gefesselten wollen nichts anderes
sein als spmbolische Vertreter der unter dem Sün-
denfluch seufzenden Menschheit. Die Stehfiguren
wurden durch liegende Gestalten ersetzt; anstatt
äußerer Fesseln wurde die Charakteristik als Skla-
ven des Sündenfluchs unter dem Gleichnis der
Tageszeiten in die Gestalten selbst verlegt.
tiefen und ernsten Sinn. (Vgl. Lit. Beil,
der „Köln. Volkszeitung" 1907, Rr. 5.)
Daß auch den beiden Herzogs-
statuen eine tiefere Idee zu
Grunde liege, d a r ü b e r i st h e n t e
alle Welt einig. Welches aber diese
Idee sei, das ist noch die Streitfrage.
Die neueste Dentnng der beiden Gestalten
als Mischung des sanguinischen
und cholerischen, p h l e g m a t i s ch e n
und melancholischen Tempera-
ments steht ilnd fallt natürlich mit der
Hypothese, daß die vier Allegorien auf
den Sarkophagdeckeln Verkörperungen der
vier Temperamente sein wollen. Wir
haben diese Ansicht an der genannten
Stelle abgelehnt. Den meisten gelten die
beiden Herzoge als Vertreter des tätigen
und des beschaulichen Lebens. Diese Ge-
genüberstellung ist ja der Renaissancezeit
ebenso gut bekannt, als der mittelalter-
lichen Symbolik. Michelangelo hat selbst
ihre ständigen Typen Lea und Rachel
schließlich am Grabmal des Papstes Ju-
lius II. neben Moses ausgestellt. Gar
seltsam aber dünkt uns der Einfall, Michel-
angelo habe die beiden Ducht, welche das
Feld tätigen Lebens kaum irgendwie be-
baut hatten, das beschauliche Leben nicht
kannten, als Vorbilder der beiden Wege
sittlicher Vervollkommnung verherrlichen
wollen. Ginliano, baarhäuptig, den Blick
stolz und frei ins Leben gerichtet, — der
Sohn des TageS! Lorenzo, das gesenkte
! Haupt beschattet mit dem schweren Helm,
! — der Sohn der Nacht! So deuten
andere nach einem Gedichtchen des Mei-
sters, in welchem zuerst gesagt ist, daß
i der Schöpfer der Zeit diese in Tag und