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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 40.1925

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Nr. 7-9
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Weser, Rudolf: Zur Ikonographie des Isenheimer Altars, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15943#0076
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die geschickte Anordnung und Verteilung der Personen und die malerische Wirkung viel
genialer gelungen ist, als seinem Vorbild.

Bilden so diese zwei Kapellenräume den Rahmen für die zwei ersten Darstellungen
unseres Bildwerks, so drängt die gedankliche und malerische Entwicklung sich in dem fol-
genden Bilde ins Freie, cn plein air, und über die Erdenlandschaft, in deren Mitte die
überglückliche Mutter mit ihrem Kinde kosend thront, ist dcS Himmels Licht wie in einem
breiten Strome ausgegoffen. Darin liegt eine gewaltige Steigerung des Raumgefühls
ausgesprochen. Im vierten Bild weitet sich nochmals dieses Raumgefühl hinein in die Ster-
ncnnacht des Ostermorgens, erhellt von der großartigen dreifachen Lichtgloriole, in der sich
riesenhaft und sieghaft die überwältigende Figur dcS Auferstandenen aufschwingt.

So ergibt sich ein scharfer Gegensatz zwischen der linken und rechten Hälfte dcS Bild-
komplercS, und in diesen» Gegensatz zwischen den in» architektonischen Rahmen und den in
freier Landschaft gegebenen Bildern spricht sich auch schon in Farbe und Licht, dort gehalten
und gedämpft, hier ausflutend und ausstrahlend etwas aus von der Vorbereitung und Er-
füllung des Gedankeninhalts der ganzen Bilderreihe.

Man betrachte das Rot in der Gewandung des Verkündigungsengels, dann beim gei-
genden Engel und in der Glorie der Tempelfigur, ferner bei der Madonna mit Kind und
endlich in» flatternden Gewand des Auferftandene». Man beachte das milde Licht bei der
Verkündigung, die Lichtzirkel int Tempelraum bei den Engeln und der knieenden Gestalt,
der Lichtstrom vo»»r Himiuel her und de» alles überhellenden Osterlichtkreis — ein wunder-
bares crescendo in Farbe und Licht.

Antithetisch hebt sich von dieser Farben- und Lichtsyinphonie das vierteilige Bildcr-
»uaterial des Altars nach Schließung der Flügel ab. Die dunkle Nacht des Kalvarienberges,
aus der sich zuerst drei »veiße Suscts: die Inschrifttafel, die Madonnengestalt und das Lamn»
hervordrängen, dann die Gestalten des Johannes Baptista, des Evangelisten und der Mag-
dalena und zuletzt die des wunden- und blutüberströmten Heilands. Mild und »vcich löst sich
das Dunkel auf und strebt de»»» Licht zu in der Beweinung der Predella und noch sieghafter
drängt sich daö Licht hervor in den beiden Gestalten der Seitenflügel, an denen die eine schon
»vieder einen Ausblick in Himmelsherrlichkeit gewährt (S. Sebastian). Es ist bcmcrkens-
»vert, daß sich in diesen Seitenbilder» wieder zaghaft die Architektur hervorwagt in der
Säule und de»»» Pfeiler.

Wird das Flügelwerk zu»» zweitenmal geöffnet, dann leuchtet uns in» Schimmer der
Vergoldung der Figuren und des Gesprenges wieder ein Meer von Farbe und Licht ent-
gegen aus den Bildern der Heiligen des Mittelftückes und der Predella, daö durch die Dar-
stellungen der beiden Flügel sich wieder leise dämpft, nicht ohne einen Ausblick in die Gna-
denhelle (Paulus und Antonius) und in den Glorienglanz des Himmels (Versuchung des
Antonius) zu getvähren.

So konstatiert sich bei Betrachtung von Farbe und Licht auf de» drei Altarabwand-
lungen ein crescendo, decrescendo und nochmals ein crescendo, ein deutlicher Hin-
»veis darauf, daß im ganzen Altarwerk e i n e i n h e i t l i ch e S G a n z e S m i t e i n e m
einheitlich eng roßenKon» Positionsgedanken vorliegt.

Is!. Der Ha uptgedankedesAltar Werks
kann natürlich nicht aprioristisch festgelegt werden, sonder» muß zunächst auf induktiven»
Wege erforscht werden. Wir sind aber genötigt, hier das Ergebnis einstweilen vorwegzu-
nehmen. Die Kunstschriftsteller, die sich mit den» Isenheimer Altar beschäftigt haben, bezeich-
nen hie und da wenigstens Teile des ganzen Werkes als Darstellung des ErlöfungS-
>v e r k e s. Am deutlichsten hat das der langjährige verdienstvolle Herausgeber der Zeit-
schriften „Die christliche Kunst" und „Der Pionier" getan, besonders in einer Abhandlung
der letztgenannten Zeitschrift. Sebastian Staudhamer (München) schreibt hier""), der
verherrlichte einheitliche Gedankengang sei: Verheißung, Vorbereitung, Beginn und Ab-
schluß des Erlösungswerkes. Nur ist der Verfasser im Rahmen seiner Darstellung nicht zur

M) Der Pionier, XI, 1919.

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