Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 40.1925

DOI Heft:
Nr. 7-9
DOI Artikel:
Weser, Rudolf: Zur Ikonographie des Isenheimer Altars, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.15943#0084
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Es ist auffallend, wie mancherscitS dieses Bild als eine visionäre oder symbolisch-
mystische Darstellung, wie als anima fidelis, als Bild der präeriftentcn Maria, als
Braut hier eingcschobcn werden will. Grünewald hat in der ganzen Reihe seiner Bilder
auf diesem Altar lauter h e i l s g e s ch i ch t l i ch e E r e i g n i s s e gezeichnet: Verkündi-
gung, Weihnachtsbild, Auferstehung, Kreuzigung, Grablegung. In diese Reihe soll nun
ans einmal ein idealistisches Bild eingefügt worden sein. Es wäre noch begreiflicher, wenn
eine derartige Darstellung an den Anfang der ganzen Reihe gestellt wäre. Schon von
diesem Gesichtspunkt aus erscheinen diese Interpretationen als gezwungen und gesucht
und darum als unwahrscheinlich. Konrad Lange hat deswegen gar nicht so unrecht gehabt,
wenn er in dem Bilde die Erwartung des Heilskindes seitens der Gottesmutter sehen
zu müssen glaubte. Mit Glück hat auch Bernhart auf die Magnifikatsstimmung des
Marienbildes hingewiesen. Das Bild, als Erwartung des Erlösers aufgcfaßt,
paßt allein rein äußerlich in die ganze Reihe am besten und deutet am klarsten den Fort-
schritt der großen Handlung, des Dramas der Erlösung an.

lind zwar ist die Erwartung in die nächste Nähe der Erfüllung gerückt. Wie sich mit
de», Nahen eines vorausgesehenen oder vorauserkannten Ereignisses die Erwartung zur
inneren, ja selbst äußeren Erregung steigert, so weisen schon die ziemlich unruhigen Linien
des barocken GebäueS auf eine gesteigerte Entwicklung hin. Im Spiel aufgeregter Ge-
bärden sehen die Gestalten des Alten Testamentes, die in de» Nischen und auf den kleinen
Säulen des Tempclchens stehen, auf die sich drängenden Ereignisse hin. In freudiger
Erregung befindet sich die Engelwelt, klnd selbst in der ruhigen Figur der Magd des
Herrn sind die betenden Hände hoch erhoben im Gefühl der seligen Erwartung.

») Die Gestalten dcS A l t e n Testamentes zu deuten, ist noch nicht ge-
lungen. Leicht erkennbar ist Moses mit den Gesetzestafeln und den Strahlenhörnern. Auf
ihn folgt Gedeon im spitzen Hut und mit den, gefältelten Rockschoß. Er hat die Hände
auseinandergebreitet und schaut »ach abwärts, wie wenn er das Wunder des auf sein
auSgebreitcteö Fell herabgefallenen Taues schauen würde. Ihn, schließt sich Aron an, der
greise Man» mit dem beredte» Spiele der Finger, dessen Priestertum u,it dem blühende» .
Stab erwiesen wird, der alö Vorbild Mariens gilt. Auf der Säule, vom großen Vor-
hang fast halb verdeckt, steht Jeremias, der in höchster Erregung mit hoch erhobener Hand
vcrkiindet: „Etwas Neues schafft der Herr auf der Erde: ein Weib wird umschließen
einen Mann" (Icr. 31, 22). Zwischen den zwei vorderen Säulchen schwebt Ezechiel
mit verschlungenen Armen und mit seinem lebhaft bewegten Spruchband, wie er von der
„verschlossenen Pforte" weissagt.

Diese Art der Deutung wird besonders nahegelegt durch Johannes Geiler von
Keisersberg, der in seiner Marienpredigt an, 26. März 1501 sich über das Kunstwerk
Maria ausspricht: „Der höchste Künstler schuf sie mit größter Sorgfalt als das wunder-
barste Werk . . ., von diese», Wunder spricht Jeremias: „Etwas Neues schuf Gott auf
der Erde: ein Weib wird umschließen einen Mann" . . ., ihre Köstlichkeit hätte niemand
verstehen können, darum hat Gott sie den Vätern der Vorzeit in Figuren wie in einen,
Umrisse gezeigt und vorgebildet. Sie ist nämlich den, Moses in, Dornstauch, dem Aron
in de», Stabe, den, Gedeon in, Felle, dem Ezechiel i» der verschlossenen Pforte vorgezeigt
worden. Was bedeutet denn, wie S. Bernhard sagt, jener Dornftrauch des Moses, der
zwar Flammen aussandte, aber nicht brannte, doch wohl Maria, die Gebährende, aber
keine Schmerzen Fühlende- Was, bitte ich, der Stab des Arons, der blühende, obwohl
aller Feuchtigkeit beraubte, wenn nicht sie, die Empfangende und doch einen Mann nicht
Erkennende. Was sinnbildet jenes Fell Gedeons, das, vom Fleische abgetrennt, ohne Ver-
letzung des Fleisches auf die Tenne gelegt wird, wobei das einemal die Wolle, das andere-
mal die Tenne mit Tau begossen wird? Nichts anderes, als das vom Fleische der Jungfrau
angenommene Fleisch, und zwar ohne Schaden der Jungfräulichkeit. Was besagt die ver-
schlossene Pforte, die nicht geöffnet wird, und durch die kein Mann Eintritt findet, als
den verschlossenen Schoos?")?" Es ist unmöglich, die Deutung dieser Figuren zu über-

Johannes Geiler von Keisersberg. Navicula penitentie vel salutis, gedruckt ?on Georg Diemar,
Angsbnrg 1511, fol. 25^.

72
 
Annotationen