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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 40.1925

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Nr. 10-12
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Weser, Rudolf: Zur Ikonographie des Isenheimer Altars, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15943#0103
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der verlorenen Drachme (Luk. 15, 10) allegorisch: „Das Weib zündet eine Leuchte an, d. i.
Gottes Weisheit erscheint in der Menschheit. Die Leuchte ist eiu Licht im Leuchter, das Licht
im Leuchter aber ist die Gottheit im Fleische. . . . (Das Weib findet die Drachme und ruft
ihre Freundinnen und Nachbarinnen zur Mitfreude auf.) Was sind das für Freundinnen?
Natürlich die himmlischen Mächte, welche der höchsten Weisheit um so näher sind, je mehr
sie sich ihr durch die Gnade des immerwährenden Anblicks nähern. Zehn Drachmen also
hatte das Weib: denn es sind neun Engelchöre; aber um die Zahl der Auserwählten zu
erfüllen, wurde die M e n s ch h e i t a l S z e h n t c r C h o r geschaffen, der seinem Schöp-
fer auch nicht nach der Verschuldung verlorenging, weil ihn die ewige Weisheit, im Fleische
wunderbar leuchtend, mit dem Lichte des Leuchters w i e d e r g e w a n n"I." Diese Alle-
gorie des großen Kirchenvaters geht nun durch die exegetische Literatur der späteren Zeit,
und noch im 13. Jahrhundert spricht S. Bonaventu r a"") mit voller Klarheit von
einem zehnten C h o r im Himmel, den die Auserwählten bilden sollen. Der Heilige
sagt: „Zehnmal wird dem Brote, dein Fleische und Blute des Herrn die Kraft des Lebens
zugesprochen, um zu zeigen, daß durch ihn und in ihm alle kommenden Auserwählten Mit-
glieder sind von jenem decimus ordo in coelo, von jener zehnten Reihe im
H i m m e l, die durch die zehnte Drachme versinnbildct ist".

Was die Väter hier schreiben, das finden wir auch in den Predigte n des Mittel-
alters. Im Schiffe der Buße oder des Heiles spricht Geiler von Kaisersberg in einer Pre-
digt auf Mariä Himmelfahrt"'): „Zuerst gehen mit Freude die Engel ihrer Herrin und
Schwester entgegen, die ein engelgleiches und mehr als ein engelgleiches Leben auf Erden
führte, im Fleische lebend außer dem Fleische, durch deren Geburt wieder ergänzt
istdieZahlder Engel, welche durch Luzifers Fall vermindert ward". Derselbe Pre-
diger redet dann von der Aufnahme der Menschen in den Himmel: „Zuerst empfangen uns
mit Freuden unsere heiligen Brüder, die heiligen Engel Gottes, die ihren Vertu st
d u r ch u n s e r c A u f n a h m e e r s e tz t s e h e n". Ausgezeichnet schön sehen wir diesen
Gedanken ausgesprochen in einer mittelalterlichen Predigt'I: „Die heiligen engeln frouton
sich, daz mit der gebürte die mennischin widir gcladit wurden beidiu ze gotcs huldin unde zuo
ire gnozschcphte (Genossenschaft) in den c e h i n d i n ch o r , da der tievel uz virstozin wart
mit allen ime volgendcn genozin".

Auch im G c b e t S l e b e n des Mittelalters hat diese Anschauung vom „zehnten
Himmelschor" ihre Ausprägung gefunden. Das Scelengärtlcin von 1516"") enthält ei»
Gebet zu den Engelchören, ad omnes choi-os angelorum. Da werden zuerst einzeln die
neun Chöre angerufen. Dann heißt es: „Wendet euren Dienst an zu unserem Schutze, leitet
unsere Gedanken, Worte und Werke auf den Weg des Heiles und Glückes, damit wir durch
freiwillige Erfüllung der Gebote Gottes die Z a h l e u rer C h ö r c, die durch Luzifers
Fall vermindert war, mit Gottes erbarmender Gnade glückselig auf; «füllen v e r -
möge »". Aehnlich drückt sich die an das Gebet sich anschließende Oratio» aus, die Gott
daran erinnert, „daß er den vom Teufel betrogenen Menschen durch seinen Sohn wunder-
bar erlöst habe, d a m i t d e r M e n s ch d i e d u r ch d e n F a l l d e s T c u f e l s ent-
standene Lücke wieder ergänz e".

Es war notwendig, auf die Entwicklung und Ausstrahlung dieser Anschauung von der
„Wiederbringung" näher einzugehen, weil dieselbe auch unserer modernen Wissenschaft teil-
weise fremd geworden ist, und weil nur so der Beweis erbracht werden konnte für die rich-
lige Auffassung derselben. Damit ist gegenüber Köglcr gezeigt, daß seine Erklärung der
Stelle des Baseler Buches nicht stimmen kann. Andernteils aber ist damit ein deutlicher
Fingerzeig gegeben für die innige Beziehung der E n g c l ch ö r e zum Er-

00) Cornelius a Lapide, Comm. in Lucam 15, 10. Antwerpen 1670, 0. 174.

oo) S.VonaveNtura, in eap. 6. Joannis cf. Mansi, Bibliotheca Moralis II 187.

97) Geller von Kaisersberg, Navic. poenitentiae seu salutis fol. 77 u. 79.

''6) Wackernagel, Lesebuch S. 375, Sermo in nativitate Domini aus der Handschrift der Wasierkirche
in Zürich.

00) Hortulus aniniac 1516, fol. 42.

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