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ZUR GRIECHISCHEN KUNSTGESCHICHTE
des jüngsten Gerichts yon Michelangelo widerräth einen sol-
chen Schluss. Derselbe verkcnnt; was Stephani des Oefteren
selbst, z. B. in seinen vortrefflichen Bemerkungen über den
Unterschied des antiken und modernen Genre hervorgehoben
hat, dass in aller Kunst kein Motiv als solches sondern allein
die formelle Behandlung desselben den Ausschlag gibt, dass
mithin ganz oline Vergleich melir als das Wagniss einer völ-
lig nackten Form an sich, die in einer unendlichen Tonleiter
sicli abspielende Art und Weise ihrer Auffassung und Wie-
dergabe es ist, welclie den Sinn der Künstler und den Geist
der Zeiten scheidet. Derselbe verkennt, dass die Gesetze histo-
rischer Entwicklung von Sitte nicht blos in Unsitte sondern
auch in Uebersitte führen, dass jede Entartung mit Nothwen-
digkeit das widersprechende Extrem hervorruft und dass äs-
thetischer Verfall in massloser Freiheit sich gewiss nicht ange-
nehmer als in puritanischer Befangenheit offenbart. Wenn ich
nicht irre, lässt jene Thatsache anderweitige Erklärungen zu.
Eine authentische oder mit Wahrscheinlichkeit erkennbare
Copie des berühmten Gemäldes besitzen wir nicht. Es kann
sich nur um Nachbildungen handeln; und bei der erstaunli-
chen Kraffc der Anregung, welche von grossen Meisterwerken
in alle Kunstgattungen ausgeht, ist naturgemäss das Maas der
Abhängigkeit, der Grad der Treue so verschieden, dass wolil
bei genauer Ivenntniss des Originals die Tragweite seiner
Wirkung auf die spätere Kunst, schwerlich aber aus einer
nur im Allgemeinen erkennbaren Nachwirkung, am wenig-
sten in statistischer Schätzung, die Gestalt eines verlorenen
Originals bestimmt werden kann. Nachbildungen zumal in
anderem Stoff und anderer Technik sind an sich mit so vielen
Aenderungen verknüpft, dass ein Mehr oderMinder der Abwei-
chung durch individuelle künstlerische Neigung ehensowohl
wie durch Zufälligkeiten der mannigfachsten Art bedingt sein
kann. In diesem Fall, wenn wirklich in den erhaltenen sta-
tuarischen und glyptischen Darstellungen der Anadyomene
mehr oder minder genaue Nachbildungen durchgängig beab-
sichtigt wären oder sich unbewusst reproducirt hätten, würde
ZUR GRIECHISCHEN KUNSTGESCHICHTE
des jüngsten Gerichts yon Michelangelo widerräth einen sol-
chen Schluss. Derselbe verkcnnt; was Stephani des Oefteren
selbst, z. B. in seinen vortrefflichen Bemerkungen über den
Unterschied des antiken und modernen Genre hervorgehoben
hat, dass in aller Kunst kein Motiv als solches sondern allein
die formelle Behandlung desselben den Ausschlag gibt, dass
mithin ganz oline Vergleich melir als das Wagniss einer völ-
lig nackten Form an sich, die in einer unendlichen Tonleiter
sicli abspielende Art und Weise ihrer Auffassung und Wie-
dergabe es ist, welclie den Sinn der Künstler und den Geist
der Zeiten scheidet. Derselbe verkennt, dass die Gesetze histo-
rischer Entwicklung von Sitte nicht blos in Unsitte sondern
auch in Uebersitte führen, dass jede Entartung mit Nothwen-
digkeit das widersprechende Extrem hervorruft und dass äs-
thetischer Verfall in massloser Freiheit sich gewiss nicht ange-
nehmer als in puritanischer Befangenheit offenbart. Wenn ich
nicht irre, lässt jene Thatsache anderweitige Erklärungen zu.
Eine authentische oder mit Wahrscheinlichkeit erkennbare
Copie des berühmten Gemäldes besitzen wir nicht. Es kann
sich nur um Nachbildungen handeln; und bei der erstaunli-
chen Kraffc der Anregung, welche von grossen Meisterwerken
in alle Kunstgattungen ausgeht, ist naturgemäss das Maas der
Abhängigkeit, der Grad der Treue so verschieden, dass wolil
bei genauer Ivenntniss des Originals die Tragweite seiner
Wirkung auf die spätere Kunst, schwerlich aber aus einer
nur im Allgemeinen erkennbaren Nachwirkung, am wenig-
sten in statistischer Schätzung, die Gestalt eines verlorenen
Originals bestimmt werden kann. Nachbildungen zumal in
anderem Stoff und anderer Technik sind an sich mit so vielen
Aenderungen verknüpft, dass ein Mehr oderMinder der Abwei-
chung durch individuelle künstlerische Neigung ehensowohl
wie durch Zufälligkeiten der mannigfachsten Art bedingt sein
kann. In diesem Fall, wenn wirklich in den erhaltenen sta-
tuarischen und glyptischen Darstellungen der Anadyomene
mehr oder minder genaue Nachbildungen durchgängig beab-
sichtigt wären oder sich unbewusst reproducirt hätten, würde