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Eike <von Repgow>; Amira, Karl von [Editor]
Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (Band 1) — Leipzig, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.22098#0033
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No. 3, 52a No. 5, 56a No. 1, 18a No. 4 (auch 26b No. 3)1), dessen Er-
klärung sich vielleicht unten S. 30 ergeben wird. Das Merkwürdigste aber
ist die grosse Holzgabel, die im Lehenrecht so oft vorkommt. Meist führt
sie der Lehenherr, indem er einem Vassalien das Lehen „verteilt". Er greift
damit dem Vassailen an den Hals, den er umzudrehen trachtet, D Fol. 65 a
No. 2, 70a No. 5, 71b No. 2. 75a No. 6, b No. 1, 76b No. 5, 88a No. 1.
Aber auch beim Urteiler, der den „verteilenden" Spruch thut, treffen wir
den gleichen Oestus, D Fol. 81a No. 1, 5, und einen ähnlichen beim
Vassalien selbst, der des Herrn Gezeugnis „verlegt", indem er mit der
Gabel dessen Arm zurückschiebt, D Fol. 71b No. 1. Begreiflicherweise
wird diese Gabel auch wieder zum Attribut. Der Mann, dem sein Lehen
verteilt wurde, trägt sie am Hals, D Fol, 71aNo. 4, 74a No. 1, 85b No. 6,
oder sammt den symbolischen Kornähren an seinem Fuss, D Fol. 89b
No. 2; die verteilten Kornähren sind von der Gabel eingeschlossen D
Fol. 81 a No. 4. Als Repräsentantin des „verteilten" Lehens erscheint sie end-
lich ausser Zusammenhang mit irgend einem andern Stück der Komposition
D Fol. 89 b No. 42). Zur Erfindung einer Gruppe von symbolischen Hand-
lungen haben den Künstler wiederum bildliche Redeweisen angeregt. Spricht
der Text vom „Ausziehen" eines verteilten Lehens, so zieht der Vassall
die wachsenden Kornähren aus ihrem Behälter an sich, D Fol. 71b No. 1, 2,
81a No. 3, 90a No. 5. „Zieht" sich Einer aus der Acht, so zieht ihm
wenigstens der König das Schwert aus dem Hals (O), Oeneal. 372. Wer
eine Belehnung „bricht", d. h. widerruft oder anficht, zerbricht einen Ast,
D Fol. 67b No. 2, 68b No. 1, oder einen Stab, D Fol. 68b No. 3, 69a
No. 1, 4, 74a No. 1, b No. 5, 6, 86b No. 43).

Körper- Schon bei den Handbewegungen geht es gewöhnlich ohne Bewegung

bewegung. Körpers nicht ab. In bestimmten Fällen aber gewinnt diese bei den
Illustratoren selbständige symbolische Bedeutung. Wer sich seiner Pflicht
entzieht, läuft davon, D Fol. 73 a No. 3, daher auch der „Dingflüchtige", D
Fol. 30b No. 4. Wer als Bote eine Nachricht bringt, eilt herbei, D Fol. 73b
No. 3, 4. Der Fronbote erscheint überhaupt regelmässig in eiliger Be-
wegung, z. B. Fol. 20b No. 4, 5, 21b No. 1, 26b No. 4, 27b No. 1, 2,
30a No. 5, ebenso wer sich zum Kampf bereit zeigt, D Fol. 13a No. 5,
14a No. 1, 15a No. 4, b No. 4. Wer etwas ablehnt oder einen Vorbehalt
macht, biegt seinen Oberkörper zurück, D Fol. 6a No. 6, 69a No. 4, 51b
No. 4, aber auch Derjenige, dem ein Eid misslingt, D Fol. 39 a No. 2, wie
umgekehrt Der, dem er gelingt, sich vorneigt, D Fol. 39a No. 3. Zu einem
Andern, mit dem man in gleicher Rechtslage sich befindet, wendet man sich
zurück, wie der bewaffnete Geistliche zu dem bewaffneten Juden, D Fol. 36 b
No. 5. Der Diener bückt sich vor dem ihn ablohnenden Herrn, dem er
auf Gnaden gedient hat, D Fol. 10a No. 4. Die wichtigste Rolle unter den
mimischen Körperbewegungen spielt aber das Sichabwenden. Man wendet
sich ab, wenn man etwas verschmäht4), D Fol. 59a No. 5, oder wenn man
seine Zustimmung verweigert oder widerspricht, D Fol. 40b No. 4, 63a
No. 1, wenn man eine Bitte versagt, D Fol. 57a No. 5, 69b No. 4, 86a
No. 1, 2. Der Beklagte, der dem Kläger nicht antwortet, wendet sich von
ihm ab, ob er nun nicht antworten will oder nicht zu antworten braucht,
D Fol. 39b No. 5, 40a No. 1, 55a No. 1, 56a No. 2, 79b No. 2, 3, ebenso
der zum Kampf Geforderte, der sich eine Frist ausbedingt, D Fol. 22a
No. 4, der Richter, der sich einer Justizverweigerung schuldig macht, D
Fol. 54b No. 5, der Schöffe der ein Urteil nicht finden kann, D Fol. 24b
No. 2, aber auch wer es nicht finden darf, D Fol. 50a No. 4. Dass Jemand
nach Abschluss eines Rechtsgeschäfts stirbt, zeigt er dadurch an, dass er
sich schon bei diesem abwendet und stürzt, D Fol. 6b No. 5, 7 a No. 25).
Sinnbildliche Bedeutung kommt endlich nicht blos dem sich bewegenden,
sondern auch dem in völliger Ruhe befindlichen Körper zu. Nicht nur
die Ruhe, die Einem gegönnt ist, kann sein schlafender Körper bezeichnen,
D Fol. 58a No. 1, sondern auch, dass er von einem Vorgang nichts erfährt,
D Fol. 72 b No. 4.

*) Ebenso H Fol. 26 a No. 5, 30 a No. 1 und dazu Weber a. a. O. Sp. 56, 64.
Vergl. auch O Fol. 63 a No. 1.

2) In der Welislaw-Bibel dienen solche Gabeln den himmlischen Mächten zur
Zerstörung des babylonischen Thurmbaues, s. Taf. X bei Wocel in den Abhandlungen
der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften 1871. Aber auch schon im Albani-Psalter
stösst Christus mit Gabeln nach dem Genick der Sünder, die er aus dem Haus Gottes
verbannt, Ad. Goldschmidt Der Albani-Psalter Fig. 33.

8) Die blaue (= eiserne) Zange in der Hand des Königs in D Fol. 57 b No. 5
(= W Fol. 59 b No. 5) dürfte wohl einem Missverständnis der Vorlage ihren Ursprung
verdanken. H Fol. 1 b No. 5 (Taf. I 13) giebt im entsprechenden Bilde dem König ein
Szepter in die Hand.

4) Wangenbieten und Beiseiteblicken als Zeichen der Abneigung auch bei Walther
von der Vogelweide, Burdach Walther von der Vogelweide (1900) 104.

5) Vergl. auch daselbst No. 3, 5.

Je sparsamer die Lokalitäten angegeben werden, desto eher werden örtlichkeit,
sie dem Künstler zu Wahrzeichen bestimmter Rechtsverhältnisse der Men-
schen. Will er zeigen, dass Jemand an einem Gut die Gewere, d. h. dass
er es im Besitz hat, so lässt er das Haus sehen, worin der Besitzer „sitzt"
oder wenigstens steht, D Fol. 33a No. 3, 30b No. 2, 61a No. 3, 70a No. 2,
75 b No. 1. Leute, die zusammen hausen, umgiebt ein und derselbe Innen-
raum, D Fol. 9b No. 1, 2, 10a No. 2, 3. Aus einem Hause treibt man
Einen, den man aus der Gewere weist, D Fol. 28a No. 2, 53b No. 2, oder
dem man die Leihe aufkündet, D Fol. 33 b No. 3, wie man ihm umgekehrt
auf ein Haus zeigt, wenn man ihn in die Gewere weist, D Fol. 71 b No. 2.
Auch den Knecht, den man frei lässt, schiebt man zum Hause hinaus, D
Fol. 43 a No. 2. An seinem Haus sucht man Den, bei dem man nach ver-
lorenem Gut fragt, D Fol. 29 b No. 2. Wer eine Holschuld zahlt, wie der
Zinsmann entrichtet, sie über das Gatter seiner Hausthür weg (Gatterzins!),
D Fol. 78b No. 6, 88b No. 2, 3. Dem Verkäufer von Fahrnis, dessen
Gewährschaft man in Anspruch nimmt, bringt man das Gut ins Haus, D
Fol. 53 b No. 4. Die geschiedene Frau schreitet auf ihr Haus zu D Fol.
51 a No. 3.

Die verschiedenen Arten der Symbole lassen eine vielfache Kombi- Kombinationen,
nation zu, und der Künstler lässt sich diese Möglichkeit nicht entgehen.
Wer z. B. an einem Gut die Gewere hat, befindet sich nicht blos in einem
Haus, sondern er fasst auch, aus diesem herausreichend, die wachsenden
Ähren oder den Ast eines Baumes an. Soll der aus einem Haus Fort-
geschobene als Eigenmann erkannt werden, so trägt er Fesseln an den
Beinen. Und dergl. mehr.

Bei einer Malerei wie der in unsern Codices picturati darf die kunst- Künstlerische
geschichtliche Beurteilung nie vergessen, dass es sich um „angewandte" Quaitaten-
Kunst handelt. Den Stil dieser Illustrationen bestimmt vor allem der
Gebrauchszweck. Diesem ist alles untergeordnet, was wir unter „künst-
lerischen Qualitäten" zu begreifen pflegen. Wie die rein dekorative Malerei
in ihren äussersten Stilrichtungen mit Bewusstsein auf Naturtreue verzichtete,
so diese rein illustrative, sobald die Natumachahmung ihrem Zweck zu-
widerlief. Darum die durchgängige und auch schon von Andern hervor-
gehobene Übertreibung teils der Gesten, teils der Grössenverhältnisse an
den Körpergliedern, womit diese ausgeführt werden. Nicht nur sind Hände
und Finger oftmals absichtlich zu gross gezeichnet, sondern auch Arme
sind ins komisch Unmässige verlängert, Schultern überhoch hinaufgezogen.
Dass aus gleichem Grunde die Perspektive und der Zusammenhang der
szenischen Komposition preisgegeben werden, haben wir schon S. 24
bemerkt.

Eine Kunst, welche die Natur so mit Bewusstsein vergewaltigt, stumpft
zuletzt allerdings ihr reproduktives Gedächtnis ab, und von hier aus er-
klären sich die mancherlei unabsichtlichen Zeichnungsfehler nicht nur in
H und O, sondern auch in D und W zur Genüge. Eher könnte man sich ßewegungs-
darüber wundern, wie richtig doch bei alledem die einzelnen Bewegungs- mo,ve-
motive, namentlich in den bessern Handschriften empfunden sind. Aber
auf die Bewegungsmotive hatte der Illustrator eben aus sachlichen Gründen,
die wir kennen, vorzugsweise zu achten. Hier liegt auch der Punkt, wo der
spezifisch künstlerische Fortschritt einsetzt, dessen Verdienst wir
dem Erfinder der Bilder in X zugestehen müssen. Je einfacher die zeich-
nerischen Darstellungsmittel waren, desto weniger hatte schon die frühere
Malerei die Handbewegungen vernachlässigt1). Aber nicht nur an syste-
matischer Ausbildung der Gebärdensprache im weitesten Sinne, auch wo
diese nicht dem Rechtsleben entlehnt ist, sondern auch in der mannig-
faltigen Darstellung der Gebärden übertrifft die Sachsenspiegel-Illustration
alle früheren Leistungen in Deutschland. Kein anderes Bilderbuch alter
Zeit wird so wie dieses beim raschen Durchblättern einen beinahe kine-
matographischen Eindruck hervorbringen. Doch müssen wir von dieser Gesichter.
Anerkennung die Mimik des Gesichtes ausnehmen. Sie erfährt als neben-
sächlich auch in den sorgsameren Arbeiten der ganzen Handschriften-Reihe
eine durchweg summarische Behandlung, und es steht daher in dieser Be-
ziehung die Sachsenspiegel-Illustration hinter früheren Erzeugnissen der
Buchmalerei, auch der sächsischen, zurück2). Wo der Bildung des Gesichtes
kein symbolischer Wert zukommt (s. oben S. 25) und jenes demgemäss im
Vollprofil steht, erblicken wir allemal das gleiche jugendlich runde Schema
in Dreiviertelprofil, worin mit möglichst wenig Strichen und Punkten

Vergl. z. B. Kugler Kleine Schriften I 49f., Janitschek Geschichte der deutschen
Malerei 115f., W. Vöge Eine deutsche Malerschule etc. 285 ff., A. Haseloff Eine
Thüringisch-Sächsische Malerschule 299 ff.

2) Vergl. z. B. die beiden Bildercyklen (ca. 1250), die im Einband des Wöltingeroder
Missale (Museum zu Braunschweig No. 569) eingeklebt sind.

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