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Amira, Karl von
Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.1171#0100
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261

dem Beschauer den Text einzuprägen. Ausnahmen gestattet man sich allerdings mit den
Redegebärden; aber diese waren auch schon so konventionell geworden, daß sie nicht
mehr zerstreuend wirken konnten.

In einer Kunstrichtung, die keinerlei realistische Ziele verfolgte, lag es weder, alle
von der objektiven Symbolik geforderten Handgebärden anzubringen, noch auch bei ihnen
stehen zu bleiben. Unter den 34 Nummern, die den scheinbaren Wust der Gestikulationen
ordnen, läßt sich knapp die Hälfte in der Eigenschaft von realen Riten des Rechts-
formalismus nachweisen, nämlich nur die beiden ersten Redegesten (1, 2), die Gelöbnis-
gebärde (7), das Wehklagen (19), das Wetten (21), die Handreichung (22), die Kommen-
dation (23), die Umarmung (24), das Bestätigen (25), der kämpfliche Gruß (26), der Hals-
schlag (27), die Schelte (28), das Führen (29), die Empfehlung (32), die Besitzergreifung (33)
und gewisse Schwurgebärden (13, 34), ■— und auch von diesen keineswegs jede in jeder
Anwendung. Von den übrigen können wir dieser Reihe mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit, jedoch abermals nur in bestimmten Anwendungen, hinzufügen die weisende Hand und
den zeigenden Finger (4, 5) den Befehlsgesfcus (6) und die Vertreibung (31). Nichtsdesto-
weniger sollte man den Ertrag der Ssp.-Bilder für die Rechtsgeschichte der Geschäfts-
formen und der Handgebärden insbesondere nicht gering achten. Schwerlich
behaupten wir zuviel, wenn wir sagen: erst mit Hilfe dieser Zeichnungen ermessen wir
ungefähr die Folgerichtigkeit, womit das deutsche Recht den Parallelismus von sichtbarer
und hörbarer Form durchgeführt hat. Geschäftsformen wie die des Wettvertrags oder der
Freilassung oder die von bestimmten prozessualen und gerichtlichen Handlungen würden wir
ohne dieses Material so gut wie gar nicht kennen. Andere wie z. B. die Kommendation, würden
uns in sehr merkwürdigen Anwendungen verborgen bleiben, und auch wenn wir solcher
besondern Anwendungen nicht allemal unmittelbar aus dem vorliegenden Illustrationswerk
inne werden, so leistet uns dieses doch, wie gerade das angeführte Beispiel zeigt, bei ihrer
Feststellung wesentliche Dienste. In andern Fällen, wie z. B. dem der Gelöbnisgebärde, gibt
es uns von einer Handlung, von der wir anderswoher nur allgemeine Züge kennen, genaueren
Unterricht und lehrt sie uns von ähnlichen Formen unterscheiden. Es ermöglicht uns
außerdem, festere Zeitbestimmungen und Lokalisationen, wovon sowohl vergleichende Unter-
suchungen wie die Einsicht in den Verlauf der Formengeschichte Gewinn ziehen können.
Für den Schluß auf das Alter einer Geschäftsform ist es nicht gleichgültig, ob wir sie
bloß im langobardischen oder altenglischen oder fränkischen Recht oder auch im sächsischen
aufspüren. Die Verfallperiode des Formalismus aber wird sehr wesentlich dadurch auf-
gehellt,, daß ein und das nämliche große Denkmal aus der Grenzscheide zwischen dem
hohen und dem späten Mittelalter mehrfache Paradigmen1) liefert für Assimilation einer
Form an. eine andere, für die Abschwächung von älteren zu jüngeren Formen und für die
Konkurrenz von synonymen, — Vorgänge, die schließlich zu jener Entwertung der Formen
führen mußten, wovon literarische Quellen des Spätmittelalters Zeugnis ablegen. In dieser
Hinsicht erlangen sogar die mancherlei Fehler der jüngeren Hss. rechtsgeschichtlichen
Wert, weil wir an ihnen beobachten, wie innerhalb ziemlich genau bestimmbarer Zeit-
grenzen das Verständnis für die alten Geschäftsformen dahinschwand.

») Vgl. S. 202 oben, 209 f., 218, 232 f., 234 f.
Abh. d. I. KL d. K. Ak. d.Wiss. XXIII. Bd. II. Abt,
 
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