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Amira, Karl von
Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.1171#0101
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262

Gewisse kunstgeschichtliche Ergebnisse schließt schon das Vorausgehende in sich.
Daneben stehen andere, — vor allem die Tatsache, daß wie in der gesamten Anlage so
auch hinsichtlich des Gebärdenspiels die Ssp.-Illustration sich durchaus in die allgemeine
Entwicklung der deutschen Malerei des Mittelalters einordnet. Einen großen, vielleicht
den größeren Teil der Gestikulationen entlieh sie dem Vorrat, der in älteren Werken der
zeichnenden Kunst überliefert war. Daneben allerdings schöpfte sie unmittelbar aus der
Wirklichkeit, doch nicht aus dem Rechtsleben allein, und, wo nötig, erfand sie eine
Gebärde, indem sie ein Symptom eines rein physischen Zustandes aufs psychische Gebiet
verlegte, wie bei Nr. 17. Ihre Originalität besteht weniger hierin, als in dem Gebrauch,
den sie von dem Gegebenen gemacht hat. Gewiß hängt jene mit der Eigenart des Text-
inhalts zusammen, unter dessen Druck die Künstler standen. Aber man verrät kein Ver-
ständnis für diese Beziehung, wenn man ihre Folge darin sticht, daß auf den Ssp.-Bildern
etliche rechtssymbolische Handlungen mehr vorkommen als anderwärts. Die Hauptsache
bleibt, wie die Erfinder und Bearbeiter dieser Kompositionen die Gebärde — gleichviel
woher bezogen — als subjektiv-symbolisches Mittel zum Veranschaulichen benützen, sie
in Wahrheit zu ihren eigenen Gebärden machen. Andere vor ihnen, die Psalterillustratoren,
der Zeichner der großen Willehalm-Hs., hatten Ähnliches unternommen, wie etwa im
älteren Drama auch der Dichter sich erlauben durfte, durch des Schauspielers Mund dem
Zuschauer das Stück zu erläutern. Aber die Meißener Buchmaler erheben im Dienst der
klar erfaßten Aufgabe die subjektive Gebärdensymbolik zum System. Treffsicher finden
sie dabei aus dem Verlauf einer Bewegung den verständlichsten und eindrucksvollsten
Augenblick heraus und lassen auf diese Art den Beschauer vergessen, daß, was er wahr-
nimmt, überhaupt nicht Bewegung, sondern nur Motiv ist. Dem Motiv aber legen sie so
geistvoll als kühn neue Vorstellungen, ja neue Begriffsreihen unter. Kein anderer Künstler
hat sich so weit vorgewagt. Und doch haben jene damit allein noch nicht den Boden
dessen verlassen, was man zu ihrer Zeit unter Kunst verstand.

Durch ihre Begriffsübertragungen hinterließen sie ein höchst wertvolles Material für
ein Grenzgebiet zwischen Kunst- und Sprachwissenschaft. Die Wissenschaft von der
Gebärdensprache ist zwar mit dem Wandel vertraut, den im Lauf der Zeit die Bedeutung
der einzelnen Gebärden durchzumachen pflegt. *) Aber soweit sie ihren Stoff nur dem
lebendigen Gebrauch, und sei es auch noch sovieler Gesellschaftsgruppen, entnimmt, vermag
sie die Übergänge zwischen den verschiedenen Bedeutungen nicht oder doch nur unter
besonders günstigen Umständen unmittelbar zu beobachten. Es ist Allgemeinen ,nur nach
psychologischen Wahrscheinlichkeitsgründen zu entscheiden, welche Bedeutung die primäre
und welche die sekundäre gewesen sei' (Wundt). Ganz anders hier, in einem großen
Illustrationswerk, das auf den Sinn jeder einzelnen Haüdbewegung Gewicht legen muß
und die Arbeitsweise des Urhebers und seiner Nachfolger zu durchschauen gestattet.
Da vollzieht sich der Übergang von der primären zur sekundären Bedeutung und sogar
der fernere sog. Bedeutungswandel in einem beträchtlichen Teile seines Verlaufs vor
unsern Blicken, nur daß es dabei planmäßiger zugeht als im täglichen Leben. Wir beob-
achten auch, wie vornehmlich, wenn auch nicht allein, die darstellenden Gebärden das

') Hierüber und zum später Folgenden s. Wandt a. a. 0. 196 ff., 221.
 
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