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Aufschrift des

sogenannten

Nestorbechers

von Ischia,
der griechi-

schen Kolonie
Pithekussa.

dem Becher setzen nicht nur den Inhalt der Ilias, sondern auch ihre Form
voraus. In deutscher Übersetzung lauten die Verse:

»Nestors Becher ist schön zum Trinken.

Sei es! Doch wer aus diesem Napfe hier trinkt, den ergreifet

gleich die Sehnsucht nach Aphrodite, der herrlich bekränzten.«

In drei Versen, von denen die beiden letzten im griechischen Text
formvollendete homerische Hexameter sind, wird hier der in der Ilias
ausführlich beschriebene goldene Becher des Nestor23 mit dem einfa-
chen Trinknapf aus Ton eines euböischen Siedlers auf Ischia verglichen
und humorvoll hervorgehoben, daß es nicht auf das kostbare Material
und die kunstvolle Ausarbeitung des Trinkgefäßes, sondern auf den In-
halt und seine Wirkung ankommt. Nur ein Kenner der Ilias konnte den
witzigen Vers verfaßt haben, und nur ein Kenner der Ilias'konnte den
darin enthaltenen Witz verstehen24.

Ist damit ein Zeitpunkt gewonnen, zu dem die Ilias sogar im äußer-
sten Westen des griechischen Einflußbereiches schon bekannt war, so
kann man deshalb doch noch nicht sagen, ob das Epos schon lange vor
diesem Zeitpunkt oder etwa noch im Verlauf der gleichen Generation
verfaßt worden war, in der ein weinfröhlicher Kolonist auf Ischia sie in
der eingekratzten Inschrift auf seinem Trinkbecher persiflierte. Das
Problem wird noch verwickelter, wenn man bedenkt, daß die sogenannte
analytische Philologie von der Vorstellung ausgeht, die Ilias sei nicht als
Gesamtwerk, als eine epische Großkomposition geschaffen, sondern aus
mehreren mündlich überlieferten kleineren Epen erst im Lauf der Zeit
zu der uns vorliegenden Form zusammengewachsen oder zusammenge-
fügt worden25.

Auch hier kann die Archäologie ein anschauliches Modell liefern, wie
man den Standpunkt der Analytiker und den der Unitarier, die in der Ilias
das Werk eines einzigen, überragenden Epikers erkennen wollen, mit-
einander in Übereinstimmung bringen könnte.

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