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Für das hier behandelte Problem ist die nach Ländern und wissen-
schaftlichen Schulen verschiedene Systematik von untergeordneter Be-
deutung. Wichtig ist, daß in der gesamten geometrischen Vasenkunst mit
wenigen, immer wiederkehrenden Dekorationselementen gearbeitet
wird und daß in den einzelnen aufeinanderfolgenden Epochen das Neue
weniger in der Formulierung ganz neuer Ornamentglieder als vielmehr
in ihrer Syntax liegt, in der Zusammenfassung zu immer größeren und
schließlich übergreifenden Gruppen bis hin zu dem das ganze Gefäß
überziehende Streifendekor der monumentalen attischen Grabvasen.

Alle geometrischen Vasen sind mit waagerechten Streifen und Bän-
dern verziert, in denen verschiedene und im Lauf der Zeit komplizierter
werdende Mäanderfriese das Gefäß umlaufen. Aber erst auf dem Höhe-
punkt der Entwicklung, den man um die Mitte des 8. Jahrhunderts an-
setzen kann, werden die Kompositionen ihrer Beliebigkeit entkleidet.
Jetzt entstehen mannshohe Vasen, die von unten bis oben nach einem
einheitlichen und an keiner Stelle mehr ohne weiteres veränderbaren,
durchgehenden Kompositionsgesetz mit Mäanderstreifen verziert sind.
Am Anfang stehen kleine, erst dem täglichen Gebrauch, dann dem To-
tenkult dienende Gefäße. Als solche lassen sie das Streben nach Vergrö-
ßerung und schließlich nach Monumentalisierung erkennen. Die Deko-
ration zeigt einen anfänglich lockeren, am Ende immer genauer durch-
dachten Bezug zur Vasenform. Im gleichen Maße belebt sich die Bema-
lung mit verschiedenen geometrischen Mustern, Zickzacklinien und
Mäandergebilden, die später auch senkrecht gestellt werden können
und Felder mit eigenen Bildelementen abtrennen.

Man muß wie bei der Ilias von einer Großkomposition sprechen, in der
der Künstler so viele im Lauf der Zeit entwickelte und allgemein aner-
kannte formale Gesetzmäßigkeiten zugleich berücksichtigen wollte, daß
es einer unerhörten geistigen Anstrengung und Erfindungsgabe bedurf-
te, um zu einer ebenso überzeugenden wie notwendigen Aussage zu ge-
langen. Die Stufe, auf der dies möglich war, setzt eine lange, jahrhunder-
telange geduldige Vorbereitungszeit voraus, und sie war erst in der eben
aus diesem Grunde als reifgeometrisch bezeichneten Epoche erreicht.

Der Wissenschaft ist es nun darum zu tun gewesen, Strukturäquiva-
lenzen, das heißt Übereinstimmungen nicht auf der Ebene der darge-
stellten Begebenheiten oder Inhalte, sondern auf derjenigen ihrer künst-
lerischen Organisation aufzuzeigen28, die einen Schluß darüber erlau-
ben, auf welcher Stufe der geistigen Entwicklung, verglichen mit der
Entwicklung der geometrischen Vasenmalerei, die Großkomposition
der Ilias entstanden sein könnte. Diese liegt ja, wie mit einem Male vom
Himmel gefallen, als die erste und zugleich größte epische Dichtung vor

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