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uns. Alle Vorstufen, die man bis zur Erreichung einer solchen dichteri-
schen Höhenlage voraussetzen muß, sind verloren, denn es handelte sich
um mündlich tradierte, von wandernden Sängern bei festlichen Gele-
genheiten vorgetragene Lieder, die nicht aufgezeichnet wurden29.

Im Gegensatz zur epischen Dichtung, bei der nur die überragenden
vollendeten Werke überliefert wurden, nicht aber die zahllosen kleinen
und mittleren Rhapsodengesänge, die ihnen vorausgingen, ist die Ent-
wicklung der geometrischen Vasenkunst in allen Stufen durch charakte-
ristische Exemplare dokumentiert. Nimmt man nun diese Entwicklung
zur Analogie, so könnte man sagen, daß die mündliche Sängerdichtung
den kleinen, allmählich an Größe und dekorativem Reichtum zuneh-
menden Vasen vergleichbar ist. Dort finden sich schon alle Elemente der
reifgeometrischen Vasenkunst, die aber weder das monumentale For-
mat noch die das ganze Gefäß von unten bis oben überziehende, einem
einzigen, mathematisch faßbaren Kompositionsgedanken unterworfene
Formensyntax aufweisen. Dergleichen konnten erst herausragende Va-
senschöpfer der reifgeometrischen Zeit und unter ihnen vor allem der
sogenannte Dipylonmeister schaffen, und man kann kaum bezweifeln,
daß auch erst zu seiner Zeit die fahrenden Sänger den Boden soweit be-
reitet hatten, daß unter ihnen einer, den wir Homer nennen, aufstehen
konnte, um eine epische Großkomposition zu schaffen, in der jedes
Glied, ja selbst der vielleicht zum tausendsten und abertausendsten Mal
wiederholte festgefügte Vers an seiner einzigen unverrückbaren Stelle
im ganzen mehr als sechzehntausend Verse umfassenden Gedicht steht.

Wer diese Analogie als überzeugend ansieht, wird zugeben, daß da-
mit ein neues Verständnis für die andernfalls gänzlich unanschaulichen
Voraussetzungen der epischen Großkomposition Ilias und eine neue
Begründung für ihre Entstehungszeit um die Mitte des 8. Jahrhunderts
v. Chr. gewonnen sind. Das stimmt auch mit der Datierung der weinfro-
hen, auf die Ilias bereits Bezug nehmenden Inschrift auf dem Becher von
Ischia um 725 v. Chr. überein. Schon nach knapp einer Generation war
das gewaltige Dichtwerk selbst an der Peripherie des griechischen Ein-
flußbereiches so bekannt, daß man die poetische Anspielung machen
und verstehen konnte.

Für die Odyssee gibt es einen dem Becher von Ischia vergleichbaren
Anhaltspunkt nicht. Das heißt dann nicht, wenn man nur das geschrie-
bene Wort als vergleichbar ansieht. Gesteht man aber auch einem Bild
die gleiche Aussagekraft zu wie einem Text, dann ist es um die Datie-
rungsmöglichkeit der Odyssee nicht schlechter bestellt als um die der
Ilias. Denn plötzlich und unversehens findet man in attischen, argivi-
schen, lakonischen und großgriechischen Vasenbildern des fortgeschrit-

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