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Die Landschaftsfresken vom Esquilin nehmen unter den von der
Odyssee inspirierten antiken Denkmälern eine Sonderstellung ein. Sie
treffen vielleicht am genauesten, was die Menschen heute von einer
Odyssee-Illustration erwarten. Der Begriff »Odyssee« ist ja zu einem
Synonym von »Irrfahrt« geworden, und es sind eher die Irrfahrten des
Odysseus in ihrer Gesamtheit als einzelne Episoden aus dem Epos, die
den modernen Leser anziehen. Den Unterschied zwischen der Darstel-
lungsweise der Odyssee-Fresken und den übrigen in diesem Buch behan-
delten Denkmälern könnte man als den Unterschied zwischen einer nah-
sichtigen und einer fernsichtigen Betrachtungsart bezeichnen. Die Vor-
liebe der antiken Künstler vor allem für das Polyphem- und das Skyl-
la-Abenteuer, an denen Denk- und Handlungsweise des Odysseus am
eindringlichsten zu exemplifizieren waren, zeigt an, daß die nahsich-
tige Betrachtungsart dem antiken Menschen offenbar angemessener
erschien.

Die Vorstellung von einem antiken Menschen ist aber nur in einer
vergröbernden Sicht zulässig, in der die Masse der antiken Menschen
den im Mittelalter und der Neuzeit lebenden Menschen gegenüberge-
stellt wird. In historischer Sicht müssen bei einer immer noch sehr
groben Einteilung in Bezug auf den antiken Menschen die großen Epo-
chen der archaischen, der klassischen, der hellenistischen und der kai-
serzeitlich-römischen Kunst und Sehweise unterschieden werden. Man
kann dann feststellen, daß der archaischen, der klassischen und der früh-
hellenistischen Zeit eine fernsichtige Betrachtungsweise in der Kunst
noch unbekannt war. Erst im fortgeschrittenen 2. Jh. v. Chr. wandelt sich
die Sehweise allmählich von einer als »haptisch«, d. h. plastisch greifba-
ren, zu einer »optischen«, d. h. impressionistisch erfahrbaren Betrach-
tungsform. Die Odyssee-Fresken sind eines der eindrucksvollsten, und,
wenn ihre Rückführung auf ein griechisches Vorbild der 2. Hälfte
des 2. Jahrhunderts zutreffen sollte, auch frühesten Beispiele für diese
Form, die auf jeden Fall zur Zeit, als diese Bilder in die illusionistische
Architekturmalerei des spätrepublikanischen Hauses auf dem Esquilin
eingefügt wurden, voll ausgeprägt war.

Man muß sich diese wichtige Erkenntnis vor Augen halten, wenn man
verstehen will, auf welche Weise die römischen Auftraggeber, die in den
folgenden Kapiteln behandelten Nachbildungen zumeist hochhellenisti-
scher Vorbilder durch die Künstler in ihren Lebens- und Anschauungs-
raum haben einordnen lassen:

Es sind nahsichtig zu betrachtende Skulpturengrupen in einer fern-
sichtig zu betrachtenden Aufstellung, also griechische Schöpfungen in
römischer Disposition.

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