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Andreae, Bernard
Odysseus: Archäologie des europäischen Menschenbildes — Frankfurt a.M., 1982

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https://doi.org/10.11588/diglit.15161#0177
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rende Kraft des unbändigen Ehrgeizes reflektiert, der Odysseus zwar
nicht zum Mord am Kameraden treibt, der aber doch den Gedanken in
ihm aufsteigen läßt.

Diese Episode wird nicht in der Odyssee berichtet. Sie würde zu dem
dort entworfenen Bild des göttlichen Dulders nicht passen. Sie stammt
vielmehr aus einer späteren Mythenvariante, in welcher der eher ränke-
süchtig geschilderte Odysseus des Kyklos nachwirkt. Aber für das Ge-
samtbild, das die Antike sich von Odysseus machte, ist sie doch wichtig.
Noch Seneca191 erinnert an das stoische Ideal, das Odysseus verkörpert,
da er nicht nur alle äußeren Schrecknisse, sondern auch die inneren nie-
deren Wünsche überwindet. Daß solche Wünsche in ihm aufkeimen,
wird in der Palladionraub-Gruppe anschaulich gemacht, deren künstle-
rische Bedeutung erst durch die Funde von Sperlonga offenbar wurde.

Der Kopf des Diomedes in der heftigen Wendung, welche die scharfe
Falte an der linken Schulter hervorruft, sein wildgelocktes Haupthaar
und die jugendlich glatten Wangen, an denen sich erster Bartflaum zeigt,
das Grübchen im Kinn, das so ähnlich in dem zarten Mädchengesicht
Athenas wiederkehrt, weiter der muskulöse Arm, der mit den straff ge-
spannten Sehnen auf dem Handrücken das Götterbild so fest um-
schließt, daß niemand es ihm entreißen kann, das alles ist eine bildhaue-
rische Arbeit von hohem Rang.

In eigentümlichem Gegensatz zu der leidenschaftlichen Bewegtheit
des jungen Helden mit den schönen Gesichtszügen und den flammenden
Augen steht die zierliche Starre des archaistischen Götterbildes. Die
sorgfältig drapierten Haare, die unter dem Helmrand hervorquellen, die
mandelförmigen Augen, in denen die Iris gemalt ist192, und der orna-
mental gekräuselte Mund beleben das füllige Oval des Antlitzes nur we-
nig. In stiller Unberührtheit schwingt die Göttin die Lanze und streckt
schützend die Linke aus. Nur die Augen scheinen zu leben und gleich-
mütig den Streit der Menschen zu beobachten. Der dünne Chiton und
das archaische schräge Mäntelchen, mit dem das hölzerne Bild bekleidet
ist, werden von der nervigen Hand des Mannes zusammengedrückt. Das
trägt zu dem Eindruck einer unerhörten Lebendigkeit der Skulptur bei,
zu der die starre Haltung des Götterbildes kontrastiert. Dieser Kontrast
wird in einer überspitzten Raffiniertheit ausgekostet.

Gegensätzlich aufgebaut ist auch die Figur des Odysseus, auf dessen
in schräger Haltung festgehaltenem Körper man sich nach dem Vorbild
des Sarkophagreliefs einen senkrecht sitzenden, nach seiner rechten
Seite gewendeten Kopf vorstellen muß. Erst dann wird die ganze innere
Widersprüchlichkeit der Bewegung erkennbar. Auch hier hat der Künst-
ler den fruchtbaren Augenblick der ganzen Geschichte getroffen, der

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