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Andreae, Bernard
Odysseus: Archäologie des europäischen Menschenbildes — Frankfurt a.M., 1982

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https://doi.org/10.11588/diglit.15161#0178
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der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Odysseus, der eben noch in fast
schleichendem Gang hinter dem Gefährten herschritt, fährt im selben
Augenblick zurück. In diesem Zwiespalt der Gefühle wird die Muskula-
tur des Bauches über dem linken Darmbeinstachel durch eine plötzliche
Drehung des Oberkörpers fast krampfhaft verzogen. Bei der ruckartig
verschiedenen Bewegung von Ober- und Unterkörper droht die Figur
beinahe auseinanderzubrechen. Man muß diese von divergierenden Mo-
tiven beherrschte Skulptur lange betrachten, um des ganzen Reichtums
der plastischen Gestaltung inne zu werden.

Es fällt schwer, in dieser hervorragenden bildhauerischen Arbeit
nicht eine originale Schöpfung, sondern eine Kopie zu erkennen. Und
doch führt kein Weg an dieser Erkenntnis vorbei. Es existieren nämlich
zwei von P. Bol193 als solche erkannte maßgleiche und ebenfalls vorzüg-
lich erhaltene Wiederholungen dieser Odysseusfigur, die, in einem we-
sentlichen Punkt übereinstimmend, dem gemeinsamen Vorbild näher-
stehen und somit die Möglichkeit ausschließen, in der Skulptur von
Sperlonga das Original zu erkennen.

Diese eindeutige Tatsache soll hier im Vergleich zwischen dem Odys-
seus der Palladion-Gruppe von Sperlonga mit seiner Replik aus der Via
Margutta, Rom194, dargelegt werden. Man erkennt zunächst an allen
Einzelheiten der Körperbildung und der Gewanddrapierung, daß der
Torso aus der Via Margutta die gleiche Figur wiedergibt wie der Odys-
seus von Sperlonga. Zugleich wird man auf einen entscheidenden Unter-
schied aufmerksam. Der Odysseus von Sperlonga hat sein auf der rech-
ten Schulter geknüpftes Mäntelchen um den linken Arm gewickelt,
damit er das Schwert darin verbergen kann. Zugleich läßt er das Mäntel-
chen aber auch über den Rücken herabfallen, so daß ihm der Saum ge-
gen die Kniekehlen schlägt. Das ist bei diesem Chlaina genannten Klei-
dungsstück unmöglich. Entweder wickelt man es um den Arm oder man
läßt es locker herabfallen, beides zugleich ist nicht durchführbar. Nun ist
ein Künstler natürlich kein Schneider, und künstlerische Freiheiten, die
mit der natürlichen Logik einer Gewanddrapierung ihr Spiel treiben,
sind ihm nicht verwehrt. In diesem Fall aber muß man feststellen, daß
das über den Rücken in so unlogischer Weise herabfallende Gewand-
stück, das auf der Schulter nirgendwo befestigt scheint, in einem ganz
anderen, wesentlich flaueren Stil gegeben ist als das mit seinen straff ge-
spannten Schrägfalten kraftvoll gestaltete Tuch auf der Vorderseite der
Figur. Völlig einheitlich wirkt demgegenüber die Gestaltung dieses Ge-
wandstücks in seiner konsequenten Drapierung beim Torso aus der Via
Margutta. Dies muß die originale Version der plastischen Schöpfung
sein, während das Bildhaueratelier, dem die Ausstattung der Grotte von

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