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der Laokoon-Gruppe im Jahre 1506 nicht in einer Epoche der Kunstge-
schichte erfolgt wäre, die für die im Laokoon verkörperte Kunstvorstel-
lung aufgeschlossen war wie kaum eine andere. Die Laokoon-Gruppe
traf das, was die Zeit von der Kunst erwartete, so genau, daß die Worte
des Plinius, der sowieso eine unbestrittene Autorität war, als selbstver-
ständlich zutreffend angesehen wurden. Hatten die Renaissancekünstler
schon vor der Entdeckung der Laokoon-Gruppe aus dem Antikenstu-
dium die stärksten Anregungen gezogen, ja, war die Wiedergeburt der
Antike das erklärte Ziel der ganzen künstlerischen Bewegung des Quat-
rocento gewesen, so fanden die Künstler zu Beginn des Cinquecento in
der von Plinius so überschwenglich gelobten Laokoon-Gruppe das
höchste Vorbild ihrer eigenen Bemühungen.

Vor allem Michelangelo236, der noch 1504 in der Pietä von San Pietro
ein zartes und verhaltenes Werk der späten Frührenaissance geschaffen
hatte, war vom Anblick der bald darauf entdeckten Laokoon-Skulptur
so tief beeindruckt, daß er in der 1508 begonnenen Sixtinischen Kapelle
Gestalten eines neuen zum Barock tendierenden Stiles schuf, für den die
Entdeckung der Laokoon-Gruppe das auslösende Moment war. Sie er-
folgte zum gleichen Zeitpunkt, an dem sich der Wandel von der Frühre-
naissance zur Hochrenaissance vollzog.

Dieses Zusammentreffen gab der Laokoon-Gruppe eine kunstge-
schichtliche Bedeutung, die sie als Schöpfung ihrer eigenen Zeit trotz der
Beteuerungen des Plinius möglicherweise gar nicht besaß. Immerhin
achtete man das Werk nur eine Generation nach der Äußerung des Pli-
nius, als man im Jahre 104 daranging, das Goldene Haus des Kaisers
Nero zuzuschütten und zu planieren, um darüber die Trajansthermen zu
errichten, nicht für wert, gerettet zu werden. Man begrub es mitsamt
dem Palast des verhaßten Tyrannen, der inzwischen zwar noch anderen
Kaisern, voran dem Titus, als Wohnung gedient hatte, bei der neuen, von
den Adoptivkaisern propagierten gerechten Herrschaft der Besten aber
ausgelöscht und durch einen dem Wohl des Volkes dienenden Komplex,
nämlich durch einen prachtvollen Thermenbau, ersetzt werden mußte.
Hätte die Laokoon-Gruppe tatsächlich die Bedeutung für das Bewußt-
sein der Zeit gehabt, die Plinius ihr, um Titus zu gefallen, zuschrieb, so
wäre es ein leichtes gewesen, sie nach oben zu transportieren und in dem
neuen Thermengebäude aufzustellen. Man hat das nicht getan, sondern
hat sie dem Licht der Welt entzogen. Gleichwohl ist in der antiken Iko-
nographie noch der Einfluß einer vorbildlichen Komposition greifbar,
die der Laokoon-Gruppe glich. Auf Gemmen des 2. Jahrhunderts237 ist
sie getreu, auf den Kontorniaten des 4. Jahrhunderts238 in ihren wesent-
lichen Zügen wiederholt.

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