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8

BERNARD ANDREAE

Plinius teilt nicht wenige Kunsturteile anderer
mit und gibt einige Male auch selbst ein solches Ur-
teil ab. Er macht dabei kein Hehl daraus, daß in der
Plastik die klassischen Werke des 5. Jahrhunderts
und in der Malerei die Werke des 4. Jahrhunderts
und besonders diejenigen der Alexanderzeit am
höchsten zu schätzen seien. Einige wenige, beson-
ders eklatante Beispiele mögen das belegen:

Dem Olympischen Jupiter des Phidias macht
niemand den ersten Platz streitig (NH 34,54: Phi-
dias praeter Iovem Olympium, quem nemo aemula-
tur, fecit ex ebore atque Minervam Athenis . . .).

Von Polyklet sagt man, daß er das Höchste in
der wissenschaftlichen Kenntnis seiner Kunst gelei-
stet hat (NH 34,56: Hic [sc. Polyclitus] consumasse
hanc scientiam iudicatur et toreuticen sie erudisse, ut
Phidias aperuisse).

Die Astragalspieler des Polyklet, die wie der
Laokoon im Titus-Palast stehen, werden von den
meisten für unübertrefflich gehalten (NH 34,55:
Fecit . . . duosque item nudos, talis ludentes qui vo-
cantur astragalizontes et sunt in Titi imperatoris
atrio — hoc opere nullum absolutius plerique iudi-
cani).

Telephanes wird Polyklet, Myron und Pythago-
ras an die Seite gestellt (NH 34,68: Artifices . . .
miris laudihus celehrant Telephanen Phocaeum . . .
suffragiis ipsorum aequatur Polyclito, Myroni, Pytha-
gorae), die vorher mit höchstem Lob bedacht wor-
den waren.

Was die Malerei anbelangt, so heißt es NH 35,79,
Apelles habe alle vor ihm und nach ihm Gebore-
nen übertroffen: Verum omnes prius genitos futuros-
que postea superavit Apelles Cous olympiade cente-
sima duodeeima. Picturae plura solus quam ceteri
omnes contulit . . . praeeipua eius in arte venustas
fuit.

Nikophanes kommen wenige an venustas — An-
mut — gleich (NH 35,111: Adnumeratur bis [sc.
Nicomacho, Pbiloxeno Eretrio etc.] et Nicophanes,
elegans et concinnus ita, ut venustate ei pauci conpa-
rentur).

Besonders interessant sind zwei Kunsturteile, die
Plinius im Abschnitt über die Marmorskulptur
mitteilt: 36,17 berichtet er, sein Gewährsmann
M. Varro habe die Aphrodite von Rhamnus des

Agorakritos allen Standbildern vorgezogen: Ago-
racritus . . . signum suum (sc. Venerem) vendidisse
traditur. . . et appellasse Nemesin . . . quod M. Varro
omnibus signis praetulit.

Noch wichtiger aber ist das Urteil über die
Aphrodite des Praxiteles, NH 36,20: sed ante om-
nia est non solum Praxitelis verum in toto orbe terra-
rum Venus. — „Aber vor allem nicht nur unter den
Werken des Praxiteles, sondern in der ganzen
Welt, seine Venus". Dieser Satz steht in offensicht-
lichem Gegensatz zu der Aussage NH 36,37, wenn
man sie im traditionellen Sinn versteht, daß der
Laokoon allen Werken der Malerei und Plastik
vorzuziehen sei.

Man kann nach allem nur folgern, daß die Aus-
sage des Plinius, wenn man sie im traditionellen
Sinn versteht, weder formal noch inhaltlich mit
seinen übrigen Aussagen übereinstimmt. Der Ver-
dacht verstärkt sich, daß hier ein Mißverständnis
vorliegt, das heißt, daß Plinius das nicht sagen
wollte, was man seit der Renaissance aus seinem
Text herausgelesen hat.

Wenn tatsächlich ein Mißverständnis vorliegen
sollte, dann muß man sich natürlich fragen, wie es
dazu kommen konnte. Ein Mißverständnis tritt
dann auf, wenn der Urheber einer Aussage und der
Leser oder Hörer von einem ganz verschiedenen
Vorverständnis ausgehen. Dem Vorverständnis des
Plinius glauben wir uns über den Wissensstand
nähern zu können, der inzwischen in bezug auf die
Laokoon-Gruppe erreicht ist. Um das heuristische
Prinzip, das in dieser Denkoperation liegt, nicht
unwirksam zu machen, muß man zumindest hypo-
thetisch annehmen, daß Plinius gewußt hat, was
wir nach den Erkenntnissen der letzten dreißig
Jahre zu wissen glauben, nämlich daß der Laokoon
eine überaus virtuose Marmorkopie nach einem
hellenistischen Bronzeoriginal ist.

Diese Tatsache konnten die ersten, die sich in der
Neuzeit wieder mit dem Plinius-Text befaßten,
nicht kennen. Die Kenntnis des Plinius war nie
verlorengegangen. Beda Venerabiiis (673 bis 735)34
hatte das ganze Werk noch einmal kopiert und so
der Nachwelt überliefert. Die Naturalis Historia
war im Mittelalter in zahlreichen Bibliotheken der
Benediktiner-Klöster in Europa35 vorhanden. In-
teressant war sie vor allem wegen der medizini-
schen und pharmakologischen Nachrichten, wäh-
rend die kunstgeschichtlichen Mitteilungen erst im

r
 
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