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Andreae, Bernard
Plinius und der Laokoon — Mainz am Rhein, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.14998#0021
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PLINIUS UND DER LAOKOON

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14. Jahrhunden größeres Interesse erlangten. 1350
erwarb Petrarca in Mantua den jetzt in der Biblio-
theque Nationale aufbewahrten Codex Parisinus36.
Seitdem gehörte die Naturalis Historia zur Pflicht-
lektüre der Humanisten. 1469 erschien die von Er-
molao Barbaro emendierte Editio princeps in
Venedig, 1476 die erste Ubersetzung in Vulgärita-
lienisch von Cristoforo Landino37, ebenfalls in
Venedig. Hier wird der fragliche Nebensatz — opus
omnibus et picturae et statuariae artis praeferen-
dum — in der denkbar einfachsten und dem Italie-
nischen nächsten Weise übersetzt mit: „opera da
essere preposta a tutte ne la pictura e ne la
statuaria". Das heißt, Landino übersetzte statuaria
ars wie im Italienischen arte statuaria. Nach dem
Dizionario Garzanti della lingua italiana (198323
s. v.) bedeutet arte statuaria nämlich „Parte di
scolpire statue; scultura", und statua bedeutet
„opera di scultura a tutto rilievo, sia di marmo, di
pietra, di bronzo etc."

Wie stark die Wirkung dieses Wortverständnisses
der Plinius-Stelle war, kann man an dem kurz vor
1492 erfolgten Auftrag Lorenzos il Magnifico an
Filippino Lippi erkennen38. Der Renaissance-
Maler sollte in der Auseinandersetzung mit dem
damals nur durch Plinius bekannten, noch nicht
wiederentdeckten Laokoon aus Marmor in der
Villa Medicea von Poggio a Caiano ein Laokoon-
Gemälde schaffen, das den Gedanken des Plinius
gleichsam vollenden sollte. Neben das vermeint-
liche Hauptwerk der antiken Kunst, eine Plastik
aus Marmor, sollte ein Renaissance-Gemälde des
gleichen Themas treten, das den Anspruch der Zeit
anschaulich machte, es der antiken Kunst gleichtun
zu wollen. Der Gedanke zu diesem Wettstreit
wurde offenbar in dem Kreis der Humanisten um
Lorenzo il Magnifico geboren, dem der Ubersetzer
des Plinius, Cristoforo Landino, und der Architekt
der Villa, Giuliano da Sangallo, angehörten. Letzte-
rer muß den Auftrag an Filippino Lippi vermittelt
haben.

Für die ersten Humanisten, die sich mit dem
Laokoon befaßten, galt dieser als das Hauptwerk
der gesamten antiken Kunst. Da man die Laokoon-
Gruppe damals noch nicht kannte und auch ihre
Stilstufe bei der Beurteilung keine Rolle spielte,
weil die ganze antike Kunst als klassisch und vor-
bildlich galt, brauchte man die Aussage des Plinius
nicht zu hinterfragen. Sie war evident.

Es war ein denkwürdiges Faktum, daß diese Evi-

denz durch die Auffindung der Gruppe in einem
bestimmten kunstgeschichtlichen Augenblick auf
fast unglaubliche Weise bestätigt wurde, denn das
erste Werturteil über die Gruppe (Frontispiz), das
schon unmittelbar nach ihrer Auffindung gefällt
worden war, stammte ausgerechnet von denjenigen
Renaissancekünstlern, die schon vor der Auffin-
dung der Skulptur ihren Ruhm kennengelernt hat-
ten39. Giuliano da Sangallo, den der Papst Julius II.
ausgeschickt hatte, um die auf dem Colle Oppio
neugefundene Skulptur zu beurteilen, hatte, wie
gesagt, die Medici-Villa von Poggio a Caiano ge-
baut, in der das Laokoon-Fresko Filippino Lippis
auf die Wand der Vorhalle gemalt werden sollte. Er
erkannte nach den Worten seines bei der Auffin-
dung anwesenden Sohnes Francesco40 sofort, daß
es sich um den Laokoon handelt, von dem Plinius
berichtet. Derjenige aber, der im Laokoon das
wahre portento d'arte41, das überragende Wunder-
werk der Kunst, erkannte, war Michelangelo, der
seinen Florentiner Freund und Förderer bei diesem
Entdeckungsgang begleitet hatte. Michelangelo42,
der seinen Stil an einem dem Laokoon verwandten
Werk, dem Torso vom Belvedere, geschult hatte,
mußte sich durch das offensichtlich überschweng-
liche Lob bestätigt fühlen, das Plinius über die
Laokoon-Gruppe abgegeben hatte. Es ist bemer-
kenswert, daß Michelangelo nachweislich beson-
ders hochhellenistische Werke des sogenannten
pergamenischen Barocks vor allen anderen Anti-
ken geschätzt hat, natürlich intuitiv und ohne sich
über die kunstgeschichtliche Definition dieses Sti-
les Rechenschaft zu geben43. Nachdem Plinius nun
ein Werk, das diesem Stilkreis zuzuordnen ist, als
überragend herausgestellt hatte, mußte Michel-
angelo die Gewißheit gewinnen, im Sinne der Re-
naissance den einzig richtigen Weg eingeschlagen
zu haben. Sein Vorverständnis des Plinius-Textes
mußte ihn daran hindern, nach einer anderen als
der damals für evident gehaltenen Interpretation
des lapidaren Satzes zu fragen, denn das hätte auch
ihn selbst in Frage gestellt.

Mindstens bis zum Tode Goethes blieb das von
Giuliano da Sangallo und Michelangelo bestätigte
neuzeitliche Vorverständnis des Plinius-Textes,
was das Urteil über die Gruppe angeht, unange-
fochten44. Winckelmann zum Beispiel, der nicht
glauben konnte, daß Plinius ein hellenistisches
Werk so hoch gelobt hätte, forderte deshalb eine
Datierung der Gruppe in spätklassische Zeit45. Erst
mit der Ausbildung der Stilforschung in der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts setzte die unaufhaltsame, all-
 
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