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Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0066

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Doidalsas: Die hockende Aphrodite

Rom, Mus. Naz
Um 260 v. Chr.

Ober- und Unterschenkel fest aufeinander liegen. Der Bildhauer be-
obachtet dabei, wie sich das weiche Fleisch der Beinmuskulatur in-
einanderpresst. Der linke Fuss ist mit der Sohle aufgesetzt, das Knie
stösst schräg nach oben, und auch der linke Ober- und Unterschen-
kel sind in der Kniekehle aneinandergepresst, der Glutäus aber
bleibt frei. Aphrodite beugt, um ihr Gewicht auszutarieren, den
Oberkörper nach vorn und wirft den etwas geneigten Kopf seitlich
zurück, als wende sie sich der nicht dargestellten, aber vom Be-
trachter zu erschliessenden Dienerin zu, die das Badewasser über
sie ausgegossen hat.

Manchen Kopisten war das nicht evident genug, und sie stellten
hinter Aphrodite einen Eros, der seine Händchen auf den Rücken
seiner Mutter legt. Das aber ergibt keinen Sinn, denn Aphrodite
fasst mit beiden Händen in den Schopf ihrer fülligen Haare, um das
Wasser auszupressen, das deshalb über sie ausgegossen sein muss-
te. Die Göttin greift mit dem gewinkelten rechten Arm vor der
Auch Seite 63: Brust nach oben und hinten und drückt dabei mit dem gesenkten

Aphrodite des rechten Oberarm die volle Brust nach unten, während der linke

Doidalsas nach oben und hinten geführte Arm die andere Brust frei lässt. De-

ren fester, schöner Umriss bleibt sichtbar. Die Gegenbewegung von
Kopf und Armen bedingt eine leichte Drehung des vorgeneigten
Oberkörpers nach links, so dass sich die weiche Fülle des Leibes in
Falten am Rippenrand, über dem Bauchnabel und über der In-
guinallinie zusammenschiebt und auffaltet. Das würde auch bei ei-
nem schlankeren Leib der Fall sein. Bei der Aphrodite des Doidal-
sas aber huldigt die Leibesfülle bewusst einem Schönheitsideal der
Zeit, das die Schlichtheit der älteren Generation hinter sich gelassen
hatte. Es ist das Ideal der Tryphe, ein Ideal von Üppigkeit und
Wohlleben, das besonders am Hof der Ptolemäer als dionysischer
Rausch zelebriert wurde. An der nicht in einer gleichmässigen Run-
dung verlaufenden, sondern mit der Bewegung die Richtung än-
dernden Rückenlinie zeigt sich eine durch das Hocken auf dein
Becken, durch die leichte Wendung des Oberkörpers und die ent-
schiedene Drehung und Neigung des Hauptes bedingte Auswä-
gung der Gewichte, die etwas Labiles, Momentanes hat. Der vom
Künstler erfasste Augenblick des sich Niederhockens beim Bade
bringt Reize eines schönen Frauenkörpers zur Geltung, welche die
klassische Kunst für rein zufällig erachtet und deshalb nicht zuge-
lassen hätte. Und doch empfindet jeder Betrachter die grosse
Schönheit dieser Frauengestalt und den Liebreiz ihres Gesichtes
unter der locker aufgenommenen Haarfülle. Es ist die Schönheit
des Realismus, der zum ersten Mal die Erfassung der Natur so, wie
sie ist, zum Thema der Kunst gemacht hatte und in ihr auch eine
kreatürliche Schönheit antraf. Doch wo ist die Unnahbarkeit der
Göttin geblieben, die Praxiteles thematisiert hatte? Wo die Verletz-
lichkeit der Schönheit, die das Thema der Skulptur seiner Söhne

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