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Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0198

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Apollonios und Tauriskos von Tralleis: Die Dirkegruppe

33. Apollonios und Tauriskos von Tralleis: Die Dirkegruppe

Ein parallel zum Attalischen Weihgeschenk auf der Akropolis von
Athen auf der Insel Rhodos aufgestelltes Denkmal war die Dirke-
gruppe, die man aus der römischen Kopie des sogenannten "Farne-
sischen Stieres" kennt. Der Anblick, den diese grösste überlieferte
antike Skulpturengruppe aus Marmor, die treffend als montagna di
marmo, Marmorgebirge, bezeichnete Dirkegruppe im Nationalmu-
seum von Neapel bietet, ist zweifellos schön. Man sieht eine üppige,
halbnackte Frau mit gespreizten Beinen hintenüber sinken. Man
sieht zwei prächtige, jugendliche Männergestalten mit athletisch
durchgebildeten Körpern einen steigenden Stier mit aller Kraft bän-
digen. Es ist ein starkes, muskulöses Tier mit wolligem Schopf zwi-
schen den kurzen Hörnern, das in jeder Corrida Bewunderung er-
regen würde. Und man sieht all diese prachtvollen Körper in einer
pyramidalen Komposition von grosser Schönlinigkeit angeordnet.

Doch das Geschehen, das vor den Augen des Betrachters abrollt,
ist entsetzlich. Verfolgt man in der Phantasie den von den Künstlern
für die Darstellung gewählten zugespitzten Augenblick weiter, so
vollzieht sich etwas Grauenhaftes. Der Stier, der die Höhe seines
Sprunges erreicht hat, kann in dieser Stellung nicht einen einzigen
weiteren Augenblick verharren, sondern stürzt im nächsten Mo-
ment mit dem Tonnengewicht seines Körpers auf die unter ihn ge-
schleuderte Frau und zerstampft sie mit den scharfen Klauen zu ei-
nem blutigen Klumpen. Die Männer müssen den Stier fahrenlassen,
dem der eine den Kopf mit beiden Händen gewaltsam so zur Seite
gedreht hat, dass der Blick des rollenden Stierauges auf die Frau un-
ter ihm fällt, und dem der andere einen Strick um die Hörner ge-
wunden hat, an dem er mit der Rechten den Kopf am nach unten
weisenden Horn in die gleiche Richtung zieht, in die die Hände des
anderen Jünglings ihn drängen. Die linke Hand des jungen Mannes,
der das Seil spannt, ist neuzeitlich ergänzt. Aus anderen Darstellun-
gen der gleichen Szene, vor allem derjenigen auf einem Cameo der
Sammlung Farnese, ebenfalls in Neapel, ist gesichert, was auch die
Haltung des linken Armes des Mannes nahelegt, nämlich dass er
nicht das Seil aufnahm, sondern mit brutalem Griff den Haarschopf
der Frau packte und sie nach hinten unter die Hufe des Stieres riss.
Der ganze Oberkörper der Frau mitsamt dem Kopf und den beiden
Armen ist ergänzt. Nur die linke Hand ist erhalten, mit der sie sich
verzweifelt am rechten Unterschenkel des rechts stehenden Mannes
festzuhalten versucht. Diese weiche Frauenhand mit den Grübchen
am Ansatz der Finger auf dem Handrücken muss sich von ihrem

„. , Halt lösen, wenn der Körper vom Gewicht des herabstürzenden

Dirkegruppe r

auf Gemme Neapel Stieres an den steinigen Boden geheftet wird und die Arme zur Sei-

Mus. Arch., te schlagen. Die Männer weichen zurück und sehen das Urteil, dem

Radierung sie die Frau ausgeliefert haben, auf grauenvolle Weise vollzogen.

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