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Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0209

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Apollonios und Tauriskos von Tralleis: Die Dirkegruppe

so weit in Richtung auf Amphion zu verschieben, dass sie auf die
fünfte Spitze des dem idealen Kreis einbeschriebenen Fünfecks zu
stehen kommen. In diesem Fall würde der Stier sich genau in die
diagonale Achse drehen und von der linken Ecke her den Anblick
bieten, den er in der Kopie in der axialen Blickrichtung hat, und der
Hund würde ihn von der Seite her ankläffen, wie es die Eigenart
kluger Hunde ist, die sich dem Wild nicht direkt in den Weg stellen,
sondern es seitlich anfallen. Bedenkt man diese Veränderung der
Gesamtkomposition, so hat man den Eindruck, dass sie einen Ein-
griff des Kopisten rückgängig machen würde, der diesem notwen-
dig erschien, um Platz für die hinzuzufügende Figur der Antiope zu
schaffen. Will man die ursprüngliche Komposition wieder kenntlich
machen, so braucht man eigentlich nichts anderes zu tun, als in Ge-
danken diesen Vorgang in umgekehrter Reihenfolge auszuführen,
also erst die steife Figur der Antiope wieder fortzunehmen, die im
Original nicht notwendig war, weil es hier ja nicht um die Mutter-
liebe der thebanischen Zwillinge, sondern um die Vernichtung der
Feindin durch den Dionysosstier geht; sodann den Dionysosstier
um den Mittelpunkt seines Leibes zu drehen und die Hinterklauen
so weit in Richtung auf Amphion hin zu verschieben, dass sie exakt
so weit vom linken Fuss des Zethos wie vom rechten Fuss des Am-
phion entfernt sind. Dann stürmt der Stier genau durch die Gasse
zwischen den beiden Jünglingen, und dann kommt er auch erst mit
seiner ganzen Masse genau über die an den Haaren nach hinten ge-
zogene Dirke. Diese streckte nach Ausweis des Neapler Cameo die
linke Hand hilfeflehend nach oben, so dass sie vor dem Stier in die
Luft ragte. Damit sie dort aber nicht mit dem Arm des Zethos zu-
sammenstösst, muss dessen rechte Hand mitsamt dem Stierkopf et-
was weiter nach links verschoben gewesen sein, was möglich ist,
wenn der Arm nicht so stark gestreckt, sondern ein wenig gebeugt
war, wie im übrigen der des Amphion.

Der grösste Gewinn dieser ganzen Operation ist die Tatsache,
dass plötzlich die Konstruktion der Gesamtkomposition einsichtig
wird. Die Gruppe bildet eine fünfseitige Pvramide. Diese ist auf
dem Fünfeck aufgebaut, dessen Spitzen durch die Fussstellung der
Figuren markiert sind, und sie kulminiert in der Spitze des rechten
Hornes des Stieres, das dann genau über der Mitte des Fünfecks
nach oben stösst. Diese Konstruktion ist erstaunlich verwandt mit
dem durch das Pentagramm auf der Basis des Sterbenden Galliers
im Kapitol kenntlich gewordenen Kompositionsprinzip der Grossen
Galliergruppe von Pergamon (S. 83). Wie diese dürfte auch die Dir-
kegruppe im Original auf einer Rundbasis gestanden haben.

Das bei einer pergamenischen Gruppe der zwanziger Jahre des
dritten Jahrhunderts zuerst beobachtete Kompositionsprinzip ist
aber in der fünfundfünfzig bis sechzig Jahre, also zwei Generatio-
nen später entstandenen Dirkegruppe in genialer Form weiterent-

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