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Architectura: Zeitschrift für Geschichte und Aesthetik der Baukunst — 1.1933 [ISSN 2365-4775]

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Nr. 1
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Platz, Gustav Adolf: System einer historischen Architekturlehre: eine Anregung zur Reform der Architekten-Ausbildung
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SYSTEM EINER HISTORISCHEN AR C H ITE KTU R L E H R E

Eine Anregung zur Reform der Architekten-Ausbildung
Von Gustav Adolf Platz, Berlin

Für den schaffenden Architekten kann Bau-
geschichte nur als angewandte Wissenschaft pro-
duktive Bedeutung haben. Ihre Aufgabe ist es,
die Brücken zu schlagen, die von der Kunst-
wissenschaft zur Praxis der Architektur führen.
Damit wird von vornherein die Selbstbeschrän-»
kung auf die angewandte Wissenschaft befür-
wortet. Sie ist für Bauschulen aller Grade not-
wendig, um das weitgespannte Gebiet architek-
tonischer Studien nicht zu sprengen, das durch
die notwendige Vereinigung aller bauwissen-
schaftlichen Disziplinen zu einem Ganzen an
die Aufnahmefähigkeit des Studierenden ohne-
hin außerordentliche Anforderungen stellt. Nicht
der vielfältige geschichtliche Ablauf der Stil-
entwicklung, nicht die unendliche Fülle der for-
malen Abarten oder der Bauperioden am ein-
zelnen Bauwerk interessiert den Bauenden, son-
dern das Typische, das ihm diese Fülle über-
sehbar macht, und das Einmalige, das ihm zum
Erlebnis wird. Er kann die Tradition nur so
weit bejahen, als sie in das gegenwärtige Leben
einmündet oder Analogien aufzeigt, die einer
Blutverwandtschaft schöpferischer Triebkräfte
entstammen. Alles andere muß er sich fernhal-
ten, wenn ihn die Fülle der Gesichte nicht über-
mannen soll, wenn er selbständig schaffen will1).
Je tiefer der Architekt in den Geist der Bau-
denkmäler eindringt, um so stärker wird er da-
von überzeugt, daß sie nicht nachzuahmen sind,
daß ihre „Aufgabe" — in seinem Sinne gedacht
— nur darin bestehen kann, Auge und Sinn für
die architektonische Anschauung zu schulen,
das technische Können zu erweitern, die Phan-
tasie zu beflügeln, aber auch die eigenen Fähig-
keiten (und ihre Grenzen) zu erkennen und die
Distanz gegenüber dem Großen zu wahren. Ge-
winnt man für die Betrachtung und das Erleben
von Bauwerken diesen Standpunkt, dann ergibt
sich auf Grund systematischen Durchdenkens
der damit aufgeworfenen Probleme der Arbeits-
plan einer Baugeschichte für Architekten, einer
„historischen Architekturtheorie", wie sie auf
Bauschulen gelehrt werden und in die Praxis
eindringen sollte.

Unser Zeitalter, das Wölfflin im Hinblick auf
dessen Einstellung zur Kunst das „Historische"
*) Vgl. Josef Gantner. Revision der Kunstgeschichte, 1932.

nennt, hat jene Art von Geschichte entwickelt,
die ihre Großtaten als „reine Wissenschaft" voll-
bracht hat. Diese Wissenschaft hat unendliche
Tatsachen- und Bestandsreihen zutage gefördert,
sowie in ihrer Verknüpfung und Deutung
vielfach Schöpferisches geleistet. Trotzdem ist
heute, da nicht nur ihre positiven Ergebnisse,
sondern auch ihre unerwünschten Folgen auf
Schritt und Tritt uns begegnen, die Frage be-
rechtigt, wie weit Geschichte dem Leben dient,
und welche Richtung ihr zu geben ist, damit sie
es nicht schädige. Für den bildenden Künstler
geht es hier um eine Lebensfrage.

Soweit Baugeschichte als antiquarische Wissen-
schaft unabhängig von den Erfordernissen der
Praxis und den Triebkräften der Gegenwart ge-
lehrt wurde, mußten sich ihre Lehren in der
Baupraxis verhängnisvoll auswirken. Angesichts
eines fast unübersehbaren Bestandes lag für den
Lehrer die Versuchung nahe, eine solche Fülle
von Stoff vorzutragen, daß die Vorlesungen über
Baugeschichte nur unregelmäßig und wider-
willig besucht wurden, oder daß sie den Blick
vom Wesentlichen ablenkten. Schließlich wurde
alles Alte überhaupt als gleich verehrungswür-
dig hingestellt, das Werdende und Neue aber
mit Mißtrauen und Geringschätzung betrachtet,
geflissentlich übersehen oder offen bekämpft.
Sicherlich sind einzelne Lehrer — namentlich in
der jüngsten Zeit — dieser Gefahr entgangen; die
unabsehbare baugeschichtliche Literatur zeigt je-
doch, daß viele Publikationen unfruchtbar blie-
ben, wo nicht gar schädlich wurden. Die Aus-
strahlungen der antiquarischen Baugeschichte
dringen bis tief ins künstlerisch interessierte
Publikum. So wird eine sterile und lebensfeind-
liche Gesinnung des Epigonentums gezüchtet,
die der Kunst der Gegenwart bestenfalls ohne
Verständnis entgegentritt.

Vom Standpunkt des Künstlers ist im Gegensatz
zur antiquarischen Betrachtung die Wertschät-
zung des Alten nur soweit berechtigt, als es dem
Neuen den Weg nicht versperrt. Die allzu gründ-
liche Kenntnis bestimmter vollkommener Werke
der Vergangenheit hat in den Architekten des
letzten Jahrhunderts jeden Glauben an die
eigene schöpferische Fähigkeit und an die pro-
duktiven Kräfte der eigenen Zeit von vorn-

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