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Architectura: Zeitschrift für Geschichte und Aesthetik der Baukunst — 1.1933 [ISSN 2365-4775]

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Nr. 1
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Schumacher, Fritz: Die baulichen Anregungen des "Heiligen Berges von Orta"
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https://doi.org/10.11588/diglit.19241#0034

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mannigfaltigung der Motive immer weiter ent-
wickeln in die neue Welt des Barock herein.
Ein Blick auf die Grundrisse der hauptsächlich-
sten unter den hier errichteten Kapellen lehrt
das —• vgl. Abb. 6 auf S. 13.

Wieder sehen wir zwei Reihen von Grundtypen,
die wir aus Orta bereits kennen, aber die Lang-
hausbauten spielen schon eine weit geringere
Rolle und lösen sich mit ihren Rundungen oder
abgeschrägten inneren Ecken merklich aus den
starren Formen des Rechtecks los. Ein seltsamer,
neuer Zwischentypus entsteht, der aus dem Kern
eines Rundbaues durch Vor- und Umbauten
axial betonte Gebilde schafft. Endlich aber er-
blüht auch der zentral entwickelte Baukörper
in reichsten Variationen und schöpft gleichsam
alle nur erdenklichen motivischen Kombina-
tionen in seinen Lösungen aus. Der Aufriß die-
ser Bauten, die Goldhardt in geometrischen An-
sichten aufgenommen hat, zeigt, wie der Archi-
tekt im plastischen Bilden baulicher Massen ge-
radezu geschwelgt hat, so daß gegenüber der lieb-
lichen Schlichtheit, die Orta seinen künstleri-
schen Reiz gibt, hier ein anspruchsvollerer Geist
vorwaltet, der wohl interessant, aber weniger
überzeugend ist.

Der Architekt dieser Bauten ist Bernascone, der
als Schüler Tibaldi's bezeichnet wird. Auch in
ihm kreuzen sich eigentümlich die Einflüsse
Alessi's und Tibaldi's, aber das für ihn Charak-
teristische sind die Lösungen, in denen Pro-
bleme aufgegriffen und weitergebildet werden,
die für Tibaldi's Persönlichkeit bezeichnend
sind.

So spiegelt sich in diesen „Heiligen Bergen" mit
erstaunlicher Lebendigkeit ein Stück Entwicklung
der künstlerischen Zeitgesinnung. Der Fachmann
wird den Weg von Renaissance zu Barock
in erster Linie betrachten als ein allmähliches
Übergehen von Fassadenarchitektur zu Massen-
architektur. Der künstlerische Prozeß, den wir
mit den Begriffen „Früh-Renaissance", „Hoch-
Renaissance", „Barock" bezeichnen, ist, geistig
betrachtet, nichts anderes, als die allmähliche
Eroberung des kubischen Gefühls. Von zwei-
dimensionaler architektonischer Gesinnung
dringt man zum dreidimensionalen Empfinden
durch. Alle Perioden künstlerischer Entwick-
lung lassen sich auffassen als ein Kampf um das
Verhältnis zum Raum; nirgends aber tritt die-
ser Kampf um das Raumgefühl und das räum-
liche Denken deutlicher hervor, als in der Ent-

wicklungswelle, die sich zwischen den Begriffen
Renaissance und Barock abspielt. Der Wende-
punkt in dieser großartigen Wellenbewegung
liegt im Zentralbau. In strenger Reinheit schafft
die Hoch-Renaissance in ihm das entscheidende
Denkmal für die Eroberung kubisch-schattendev
Phantasie. Aus diesem einfachen Keime ent-
wickelt das Barock tausend neue Schöpfungen.
Nirgends können wir diese Entfaltung vielleicht
deutlicher beobachten, als an dem reichen Mate-
rial, das auf den „Heiligen Bergen" bequem,
wie in einer wohlgeordneten Schachtel zusam-
mengehäuft ist. Hier spiegelt sich einer der
interessantesten grundlegenden Vorgänge in der
Geschichte der Erweiterung baukünstlerischen
Erkennens. Niemand, der künftig über die Ent-
wicklung des Zentralbaues und damit über ein
Grundproblem architektonischer Auffassung
schreiben will, wird an den bescheidenen klei-
nen Arbeiten dieser frommen Werke vorüber-
gehen können.

Und so werden sie zu weit mehr, als zu den zu-
fälligen Stätten idyllischer Architektureindrücke.
Das ist vielleicht noch lange nicht genug be-
achtet worden, trotz Goldhardt's reizvoller
Schrift.

Aber nicht das allein hat mich nach dem Kriege
wieder zu den eigentümlichen Eindrücken Ortas
zurückgeführt. Unwillkürlich beschäftigt sich
die Phantasie mit dem Gedanken, wie der
Künstler die Erinnerung an großes Geschehen
festzuhalten vermag, und alle Formen, in denen
die Menschheit das bisher versucht hat, gehen
einem durch den Sinn. Und da taucht hier eine
Form auf, die bisher wenig gekannt ist: den
Taten von Christus, Franziskus und Maria ist in
den Bergen von Varallo, Orta und Varese ein
Denkmal gesetzt, wie es durch den Zusammen-
schluß von Kunst und Natur kaum eindring-
licher geschehen kann.

Wenn wir das betrachten, tun wir es nicht in
dem Gedanken, als ob wir etwas ähnliches nach-
machen könnten, und doch liegt eine allgemeine
unbestimmte Anregung darin. Man sieht, daß
es die Möglichkeit gibt, zu erzählen, wie eine
Chronik, und doch die Weihe unpersönlicher
Gesamtstimmung zu wahren.

Solche unbestimmte schöpferische Anregungen,
wie sie von echten Kunstwerken ausstrahlen,
weiten den Blick: sie geben einen Maßstab für
Ziele und wecken die Stimmung, aus der Künst-
lerisches geboren wird. Fritz Schumacher

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