Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 24.1908

DOI Heft:
Beilagen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27776#0309
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1908

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 12

größerer Stützweiten von selbst ergibt. Es entstand daraus eine neue
Kunstform mit überstehenden, aufgebogenen Balkenenden.

Alle Völker dieses weiten Formenkreises bilden den Schmuck der
Bauglieder aus freier Hand, die allein von dem durch den Künstler der
Natur abgesehenen und innerlich verarbeiteten Formenverständnis geführt
wird. Besonders auffallend ist dies an den Profilen der Bauglieder, welche
nach Boettichers Nachentdeckung stets dem Profil natürlicher Blätter
nachgebildet sind, die nebeneinander gereiht, ein Bauglied darstellen. Daß
die Kymatien ursprünglich Blätterreihen darstellen sollten, geht aus einge-
ritzten Linien hervor, welche in stilisiert vereinfachter Form die mit leb-
haften Farben angemalten Blätter im durchgehenden Profil abteilten. Immer
aber ist der Baukörper selbst auch in seiner einfachsten Form durch das
Ornament an seiner sichtbaren Außenfläche als ein Teil gekennzeichnet,
der im Ganzen einen bestimmten Zweck zu erfüllen hat. Die Säule soll
tragen und ist im Umriß ihrer ganzen Masse dazu geformt. Die hängende
Platte soll durch ihren freitragenden Überstand die unten liegenden Teile
schützen; sie wird später durch Konsolen gestützt und trägt Tropfen,
frei nach unten hängende Rosetten, ln diesem Sinne sind die tragenden
Figuren am Tempel zu Agrigent und am Erechtheion nur die letzten Folge-
rungen des der ganzen antiken Bauweise innewohnenden Gedankens in
edelster Gestalt. Dieser steht von der später auftretenden gotischen Bau-
weise trotz mancher Berührungspunkte scharf getrennt.

Diese viel später, aus unbekannten Anfängen sich entwickelnde
zweite Wurzel der Baukunst beruht nicht auf Nachahmungen gegebener
Vorbilder in der organischen Natur, sondern auf den Gesetzen der vom
menschlichen Verstände aufgefundenen und als unabänderlich erkannten
mathematischen Flächen- und Raumbildung. Regelmäßige geometrische
Figuren, wie das Quadrat, das gleichseitige Dreieck, das Sechseck, gibt es
wohl in der Natur in der Blütenteilung, dem Stengelquerschnitt, den Kristall-
formen u. s. w.; sie müssen aber vom Verstände erst gesucht und ge-
funden werden. Praktisch darauf hingeleitet wurde der Baukünstler erst
durch die beim Behauen der Steine und Aufzeichnen der Grundrisse er-
forderlichen Kunstgriffe mit Richtscheit und Zirkel, die ziemlich das
Gegenteil einer Linienführung aus freier Hand hervorbrachten.

Zuerst begegnen wir der neuen Kunst im Haurän, dem nördlich von
Palästina gelegenen Syrien, wo eine Anzahl merkwürdiger Bauten aus dem
vierten bis sechsten Jahrhundert erhalten sind, schwerlich aber noch lange.
Die vollendete Technik und der bestimmt auftretende Charakter deutet
auf eine lange, vorausgehende Entwicklung, deren Spuren noch zu suchen
sind. Die vorhandenen Bauten wurden unter christlichem Einflüsse gerade
da errichtet, wo der Mangel an Holz zur Heranziehung des behauenen
Steines nicht bloß zu Kultzwecken, sondern auch zu Wohnbauten nötigte.
Dabei ließ man sich die freihändige Linienführung und den einfachen
technischen Erfahrungssatz, daß herunterfällt, was nicht senkrecht unterstützt
ist, nicht genügen. Aus der Einsetzung der Verstandeskräfte entsprang
außer der Aufzeichnung der Profile der Bauglieder und der Verhältnisse
in Grund- und Aufriß nach Maßgabe der mit Richtscheit und Zirkel er-
mittelten geometrischen Figuren noch die Kenntnis statischer Wirkungen in
den Gewölben und Kuppeln, endlich auch vielleicht des wichtigsten Ele-
mentes, der quer gestellten Wandstücke, der Strebepfeiler, zur Auf-
nahme des in schräger Richtung zum Boden geleiteten Druckes.

Wohl haben die Etrusker den Römern die Wölbkunst im Rundbogen zu-
geführt; er ist ihnen aber ein fremdes Element geblieben. Von den dabei
im Widerlager auftretenden Kräften haben die Römer nur durch Erfahrung
Kenntnis erhalten, aber niemals versucht, diese Kenntnis ornamental zum
Ausdruck zu bringen. Im Gegenteil haben sie die Bögen wie gerade Balken,

die Wölbung wie
i eine gerade Decke
ornamentiert. J eden-
falls haben christ-
liche Völker in Syrien
die Bedeutung des
beim Gewölbe un-
entbehrlichen Zube-
hörs, des Wider-
lagers, zuerst der
Form nach in ihren
Bauwerken zum
Ausdruck gebracht.

Völlig unbeeinflußt
von den nur um
mehrere Menschen-
alterfrüherenPracht-
bauten der Römer
in Baalbek und Da-
maskus stehen diese
Bauten im nahe-
liegenden Haurän,
und strahlen von da
weit und weiter über
Byzanz, Italien, die
Lombardei und
Nordfrankreich. All-
mählich entsteht dar-
aus der ältere sogen,
romanische Stil,
aus dem in Deutsch-
land der sogen.

Übergangsstil
geworden ist, in
Frankreich aber, in
schnellerem Tempo
fortschreitend, der
gotische Stil, der
wegen seiner völli-
gen Durcharbeitung
des ihm von Anfang
an innewohnenden
Prinzipes, der mit
dem Verstände auf-
gefaßten geometri-
schen und statischen
Gesetze, vom 12. bis
15.Jahrhundert allein
herrschend wurde.

Diese schnelle
Aneignung des aus
dem Süden kommen-
den Formensinnes
durch die im Norden
wohnenden Völker,
unter bewußter Aus-
scheidung der ihnen
gleichzeitig übermit-
telten antiken Ele-
mente ist wohl keine
zufällige. Bei ge-
nauer Prüfung der
ältesten germani-
schen Zierkunst, die
sich an Schiffen,

Waffen, Schmucksachen und Tongefäßen betätigt hat, finden sich manche
Eigentümlichkeiten, die in der sogen, frühromanischen Kunst nur weiter
entwickelt erscheinen. Das germanische Ornament ist in Form von Spiralen,
Zickzack, namentlich Bandverschlingungen durchaus selbständig und ver-
schmilzt dann mit der Ausgestaltung eigentlicher Baukörper in geometrischer
Auffassung zu einer von der antiken Formensprache scharf getrennten,
aber dem Inhalte nach ebenbürtigen Formensprache.

Als erstes Produkt dieses Vorganges erscheint das Würfelkapitäl,
das ein rein geometrisches Gebilde darstellt, entstanden durch Abkantung
einer Kugel durch einen Würfel. Die Förm vermittelt in denkbar einfachster
Weise den Übergang aus dem runden Säulenschaft in den rechteckigen
Kämpfer, welcher Übergang vordem stets unbefriedigt ließ.

Die geometrischen und statischen Gesetze, die Grundlagen der mittel-
alterlich-christlichen Kunst, bergen einen Reichtum an Ausdrucksmitteln,
gegen den die antike Formenwelt nicht aufkommt. Sie treten zunächst
in der Grundrißbildung auf, die scharf von der einfachen rechtwinkligen
der gesamten Antike sich abhebt. Der reichste Grundriß der antiken
Kultgebäude ist geradezu ärmlich gegen die romanischen und gotischen
in der einfachsten Ausgestaltung. Die altchristliche Basilika ist der letzte
Versuch, mit dem antiken Grundriß auszukommen. Aber schon ist die
halbrunde Apsis zur Befriedigung eines Kultbedürfnisses hinzu getreten.
Die Wände sind noch glatt und zeigen noch kaum Andeutungen, daß sie,
von Lastpunkten ausgehend, von Druckkräften durchzogen sind. Öffnungen
haben noch rechtwinklig in die Mauer eingeschnittene Leibungen und
sind durch Ornamente eingefaßt, die auf die Wandflächen gelegt sind. Neue
Formen haben die Basiliken nicht hervorgebracht.

Der vollendete gotische Stil umkleidet die den ganzen Bau durch-
ziehenden Drucklinien, die stets von unten nach oben gedacht sind,
mit Materialstreifen geringster Abmessung und läßt die Masse da-
zwischen fort.

Chor der Klosterkirche Heisterbach.

Nach Aufnahme der Kgl. Meßbildanstalt in Berlin.

(Fortsetzung in der 2. Beilage.)
 
Annotationen