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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

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Jaumann, Anton: Vereinfachen und Stilisieren, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0329
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VEREINFACHEN UND STILISIEREN.

Vom Ornament zum Bilde ist kein weiter
Schritt; sie kommen sich manchmal so
nahe, dass es unmöglich ist, einen Unterschied
zu sehen. Nur an den beiden Polen, wo das
Bild ganz Bild und das Ornament ganz
Ornament ist, treten die Eigenschaften,
welche dem Begriff Bild und Ornament
entsprechen, klar und deutlich hervor. Da-
zwischen aber zieht sich eine lange Reihe
von Übergängen hin; nirgends ist eine Kluft,
nirgends ein Bruch. Denn ein Wesens-
unterschied besteht zwischen beiden nicht.
Nur in der EntWickelung stehen sie auf
ungleichen Stufen. Wie im Reich der Lebe-
wesen der reichste undkomplizierteste Organis-
mus, etwa des Menschen, durch eine Millionen
Jahre zurückreichende Abstammung ver-
wandt ist mit dem primitivsten einzelligen
Geschöpf, so knüpft in der
Kunst eine Entwicklungs-
reihe an beim Punkt, bei
der simplen geraden Linie
und führt über reichere und
immer reichere und feinere
und differenziertere Bild-
ungen hinweg bis zum
figurengefüllten Gemälde
mit den raffiniertesten
Licht- und Luftstimmungen.
Auch der Punkt und die
gerade Linie sind schon,
für das Auge des Künstlers
wenigstens, mit Leben be-
gabt. Der Punkt ist der
höchste Ausdruck der Kon-
zentration ; er behauptet
sich als solcher der gan-
zen übrigen Welt gegen-
über; er ist ein Indivi-
duum, er steht fest auf
seinem Platz. Und die
gerade Linie ist Ausdeh-
nung, ist Fluss; sie streckt
sich, sie hält fest an einer
Richtung und hat damit
straffsten Halt in sich selbst;
sie hat Form, Charakter. j. v. cissarz—darmstadt.

(Fortsetzung und Schluss aus dem Januarheft.)

Wie viele Kombinationen von Punkten
lassen sich nun aber bilden, die alle wieder
ihr eigenes, besonderes Leben leben, und
in ihrer Gestalt Ausdruck von in ihnen
waltenden, auseinander strebenden und ver-
einigenden Kräften sind! Ebenso aus ge-
raden und gebogenen Linien, und dann aus
Flecken und flächenhaften Gebilden! Die
Möglichkeiten sind zahllos; aber nicht nur
viel und vielerlei Leben lässt sich so in For-
men fassen, sondern es wird mit wachsender
Bereicherung und Differenzierung auch immer
feiner und höher und wertvoller — bis wir
nicht mehr geometrische Bildungen vor uns
zu haben glauben, sondern organische, d. h.
Formen, die den im Reiche der belebten
organischen Natur vorkommenden ent-
sprechen. Auch die Formen der Natur sind

Partie aus umstellendem Empfangszimmer,

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