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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 17.1905-1906

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Schur, Ernst: Entwicklung
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Schur, Ernst: Die Theorie des "Schönen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7136#0240
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Entwicklung. — Die Theorie des »Schönen«.

Frist noch vergangen ist, befindet sich die
Entwicklung, die seinen Gang ohne ihn
nimmt, weitab von ihm. Er vernimmt nur
noch von fern ein Brausen. Dort fliesst und
schäumt der Strom. Aber hier bei ihm und
um ihn wird es einsam und still. Er steht
für sich. Lautlos breiten sich um ihn die
endlosen Horizonte. Lautlos, beinahe tot
gähnt rings um ihn: Einsamkeit.

Wenn alle Instinkte jung und stark und
wach sind, dann fühlen wir die Einheit der
Entwicklung. Wir stellen uns machtvoll
diesem Strom entgegen und freuen uns daran,
wie machtvoll er schäumt. Nur die Zag-
haften, nur die Kleinen, nur die Schwachen,
nur die, die ohne Zusammenhang in sich
selbst, ohne Zusammenhang mit ihrer Zeit
sind, werden weggeschwemmt, gehen unter
oder gehen beiseit. Ihre Rufe verhallen.

Und dann kommt das Gefühl der Sehn-
sucht, sich diesem Neuen ganz hinzugeben,
diesem Wirkenden, das Kraft ist, zu folgen,
machtvoll als ganze Persönlichkeit sich von
diesen Wellen tragen zu lassen. Ein Jauchzen
weitet die Seele. Mit dem Gefühl tiefsten Ver-
trauens segeln die Menschen immer wieder in
dieses Unbekannte. Immer wieder fallen die
Opfer. Immer wieder treten Neue ein.
Welcher Drang leitet sie? Sind sie über-
zeugt, das Ziel zu finden ? Ist es nur Drang,
Kraft, die sie leitet?

Entwicklung heisst dieser Siegeszug, dem
die Menschen sich opfern. Und gerade wenn
sie trunken sind von Lebensfülle, fühlen sie
diese Wellen um sich wogen und fühlen ihr
Blut im Takt mit dieser Melodie pochen. Trage
mich hinweg — dir will ich mich opfern! —
so ruft die Stimme des wilden Blutes in uns.
Auf der Höhe dieser fruchtbaren Erkennt-
nis formt der Künstler seine ehernen Werke.

Immer wieder stellt die Zeit diese For-
derungen an den Einzelnen. Wir haben uns
bisher zu sehr gewöhnt, die Geschichte zu
sehr vom Standpunkte dieses Einzelnen auf-
zufassen, dessen Leben eine Reihe von Hoff-
nungen und Enttäuschungen und Verzweif-
lungen ist, die sich alle um dieses Eine
gruppieren: wie der Einzelne sich zu dem
Ganzen stellt, ob er aufjauchzt, ob er klagt,
ob er nörgelt, ob er unterliegt. So zerfiel
immer wieder die grosse Macht der Ereig-
nisse, die sich des Einzelnen als Mittel be-
dienen, in eine Fülle zusammenhangloser
Einzelerlebnisse: Trübungen, Hoffnungen,
Freuden des Einzellebens.

In diesem Zusammenschluss aber knüpft
das Ganze an das Einzelne an. Entwick-
lung des Ganzen ist nichts anderes als Kräfte-
entfaltung des Einzelnen. Und dieser Ein-
zelne muss wissen, dass nicht sein Leben
und sein Werden von Wert ist, sondern nur
der eherne Gang der Entwicklung, e. schür.

DIE THEORIE DES „SCHONEN"

Die spekulative Philosophie (wie wir sie
bis dahin kannten —■ ohne den Ein-
schlag: Naturwissenschaft), in Verbindung
mit der Geschichtswissenschaft (wie wir sie
bis dahin kannten — ohne den Einschlag:
Geographie, Völkerkunde, Soziologie — im
letzten Grunde also auch wieder Natur-
wissenschaft) verführten oder wollten wenig-
stens zu dem Glauben verführen —: es gäbe
m der Kunst eine feste Norm.

Diese müsse gesucht werden! Alles
Schaffen vergangener Zeit müsse daraufhin
betrachtet, geprüft werden! Dann solle ver-

glichen werden, das Überflüssige gestrichen
werden! Und zuguterletzt — das hofft man
— werde sich so etwas wie eine feste
Theorie ergeben.

(Übrigens — selbst wenn all diese Voraus-
setzungen stimmten, selbst wenn demgemäß
auch die Schlussfolgerung sich als richtig
erwies, d. h. die feste ästhetische Theorie die
Suchenden belohnte — wem wäre damit
gedient? Wer wäre belohnt? Wer wäre
damit seliger gemacht? Die Leute der
Wissenschaft wären beglückt worden. Von
ihnen wieder nur der europäische Ausschnitt.

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