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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 22.1908

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Michel, Wilhelm: Goethe und die bildende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7006#0073
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GOETHE UND DIE BILDENDE KUNST.

VON WILHELM MICHEL MÜNCHEN,

Der Schaffende ist ein Anderer als der
Genießende und der Urteilende. Daß
das feinste, sicherste Urteil in Dingen der
Kunst nicht vor den schlimmsten Entgleis-
ungen der eigenen Produktion schützt, erleben
wir Tag für Tag. Umgekehrt ist es richtig,
daß eigene Trefflichkeit in menschlicher und
künstlerischer Hinsicht nicht vor Trübungen
des Urteils über fremde Schöpfungen und
Menschen bewahrt. Wäre Schiller als Pro-
duzent dasselbe, was er als Kritiker Bürger und
Matthisson gegenüber war, so wäre sein Name
schon längst von den Tafeln der Geschichte
ausgelöscht. Ahnliches gilt für Goethe, und das
soll unsere Kautel bilden, wenn im Folgenden
einiges Unehrerbietige über Goethes Stellung
zur bildenden Kunst gesagt werden sollte.

An zahlreichen Punkten seiner Werke hat
der Mann, den wir als den größten Deutschen
aller Zeiten verehren, Bemerkungen zur bilden-
den Kunst niedergelegt, bald beschaulich —
deskriptiver Art, bald in besonnener Weise
theoretisierend. Was ihn nach Italien zog,
war in erster Pinie die Kunst; mit ihr ist
er bis zum Ende seines Lebens in ständigem,
lebhaftem Verkehr geblieben. Aber er, der
alle Erscheinungen der Natur, der »gütigen

Mutter«, mit so offenem, gewaltigem Blick
aufzufassen wußte, blieb der Kunst gegenüber
in einer Enge des Standpunktes befangen,
über die wir heute noch billig erstaunen. So
sehr das Maß seines Lebens über das gemeine
menschliche hinausgeht, so sehr erscheint er
hier als vollkommenes Kind seiner Zeit, die
den ästhetischen Problemen in geradezu
rührender Hilflosigkeit gegenüberstand. Es
ist keine Frage, daß sein Gefühl gegenüber
den Kunstwerken alter und neuer Zeit in
vielen Fällen das Richtige traf. Aber das
Wort geht bei ihm stets in der Irre, blind
und unbeholfen, und klammert sich stets an
die Dinge, die nicht wesentlich, nicht ent-
scheidend sind. Man kann wohl sagen, daß
Goethe in seinem ganzen Leben nicht von
einer durchaus gegenständlichen, stofflichen
Betrachtung der bildenden Kunst losgekommen
ist. Seine Sinnlichkeit war in dieser Hinsicht
ebensowenig differenziert als die seiner Zeit-
genossen. Er faßte die anekdotische, die
ethische Bedeutung des Kunstwerkes mit Eifer
auf, und hält es damit für erledigt. Er
nimmt es so wörtlich, so buchstäblich, daß
er in den Sprüchen sagen konnte, die Malerei
sei deshalb die »läßlichste« aller Künste, weil
 
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