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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 26.1910

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Michel, Wilhelm: Das Elend der Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.7378#0302
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WALTER BONDY L'ARIS.

(icmaldc: »Calvarienberg«

DAS ELEND DER ILLUSTRATION.

VON WILHELM MICHEL MÜNCHEN.

Aus Kinderzeiten hat sich in meine Bibliothek
1\. eine alte illustrierte Ausgabe von Ander-
sens Märchen gerettet. Was Andersens Mär-
chen sind, wissen wir alle : Ein Strauß un-
verwelklicher Poesie, ein Denkmal höchsten
Dichtertumes, ein holdes, heimliches, ver-
träumtes Sinnen vor den großen Rätseln der
Welt, heiteres, fröhliches Fabulieren und vor
allem Liebe, viele Liebe zu den Menschen, zu
den Dingen, zu allem, was Gott zwischen
Himmel und Erde geschaffen hat. Die dunklen
Farben fehlen darin nicht; in der „Geschichte
einer Mutter" klagen von der Sordine des
Leides gedämpfte Töne von einer schauerlichen
Süße, wie sie sonst kein neuerer Dichter her-
vorgebracht hat. Selbst die heiteren Farben
dämpft eine fast unmerkliche Schwermut, eben
jene Schwermut, die dem Wesen der Poesie
von Natur beigemischt ist.

Diese Märchen, in denen ein großer Teil
meiner Kindheit lebte und webte, haben auch
für mein Mannesalter noch nichts von ihrem
Zauber eingebüßt. Dinge, wie die Geschichte

vom fliegenden Koffer, sind mir geradezu Leit-
motive geworden für jene zu Zeiten grundlos
auftretende Trauer, die man inDämmerstunden
manchmal durchmacht. Und daß mir diese
Märchen so lebendig geworden sind, daran
tragen zu einem guten Teile die kleinen, treuher-
zigen und plauderhaften Holzschnitte Schuld,
mit denen verschiedene Künstler das Buch
geziert haben. Erst spät habe ich erfahren,
daß unter ihnen berühmte Männer waren:
Ludwig Richter, Pocci, Oskar Pletsch. Ich
sah nur und empfand in diesen launig hin-
gespielten Blättern die intime Erzählerkunst,
die naive, herzliche Freude des Mitteilens.
Und diese Eigenschaften, denke ich mir, soll
der Illustrator haben: Lust am Erzählen, Freude
am reinen, ungesuchten Mitteilen von allerhand
lustigen oder traurigen Begebenheiten.

Vergleiche ich mit diesem Andersenbuch
moderne illustrierte Märchensammlungen, dann
ergreift mich Mitleid mit den Kindern. Ohne
zunächst zu untersuchen, welche die Gründe
sind, stelle ich die Tatsache fest: Unsere

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