I
hat, daß der Grundsatz derselben „Das Subject kriegt ein Prä-
dicat", auf die Adelsverleihungen im Mittelalter zurückzuführen
ist. In seinem berühmten Jugendwerk „Die Hauptwörter in neuer
Beleuchtung" macht er über tausend Wörter zum Gegenstand
einer psychopathischen Analyse, und wenn heute anerkannt ist, daß
der Applaus eilt Rufzeichen, der Wechsel ein unbestimmtes Zahl-
wort und das Staatsgrundgesetz kein Bindewort, so ist dies
ein Verdienst Reiner's. Auch als Lyriker leistete er Außer
ordentliches. Eine Perle von unschätzbarem Werth ist sein .
am 15. November 1928 entstandenes Gedicht „Frühlings- (/
wäsch e", das in unvergleichlicher „Krafft" der Sprache und
„Ebbing" der Diction anhebt:
Mn der Waldesscharte
Blüht die Lerche neu.
Graue Rosen singen —
Was, ist einerlei.
Auf den Bergen lauert
Mißverstand'ne Luft
Und die neue Amsel,
Welche Kuckuck ruft.
Das folgende Jahrzehnt charakterisirt sich durch das Auf-
tauchen der Wickeldichter, deren productive Fähigkeiten augen-
blicklich nach der Entwöhnung erloschen. Wir kennen ihrer über
vierzehntansend. Einige von ihnen hatten die Eigenart, daß sie
nur mit nngespitztem Blei schreiben konnten und wenn sie das
Honorar voransbekamen. Das berühmteste Werk jener Epoche
sind die „Liebesabenteuer eines Lebensmüden", verfaßt
von der kleinen Gusti Trinker im vierten Monat ihres Lebens;
denn auch die Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes stellten
ihren Mann. Sie dichteten ausschließlich hinter dem Rücken
ihrer Mutter. Eine kleine Skizze aus dem erwähnten Bilch will
ich Ihnen vorlesen:
Eine Grabphantasie von Gusti Trinker,
war Friedhof. Die Nacht war ganz herabgekonnnen und die
kleinen Seelen in den feuchten Grabgründen froren in ihren
fadenscheinigen Hemdchen, welche nach der Näherin schrieen. Eine
derselben hatte zu irdischer Zeit einem koketten Mädchen der
sogenannten Gesellschaft angehört, das mit den Männerherzen
Fangbällen spielte, als wären dieselben nicht aus Fleisch und Blut
geschnitzt, sondern anders. Aber eines Tages kroch die rächende
Vergeltung in sie hinein in Gestalt einer reißenden Liebe zu einem
schönen Jüngling mit übertriebenen Augen, in denen man lesen
konnte die Vergeltung, ja, denn ihre Mutter neinte die Verbindung
aus Gründen. Ablebenslustig rüstete das Mädchen zu einem secessi-
onistischen Ende und jagte sich einen Giftbecher in die Nierengegend.
Der junge Mann auf die Kunde siechte hin, gerieth in Schulden,
starb. Auf demselben Friedhof lagen sie nun begraben; auch die
zwölfte Stunde, die beiden schlug, war die-
selbe. Der Tod trat auf. In der rechten
Hand hielt er eine Leier, die aus Knochen
zusammengefügt und nur mit einer Saite
bespannt war, in der linken Hand hielt
er die rechte. Tim tam erklang es
alsbald von der Knochenleier mit
<f
grauenhafter Wirklichkeit. Da verließen die Seelen ihre warmen Gräber,
umhalsten sich unter den Klängen der farblosen Accorde und stürmten dahin,
wild tanzend, erwartungsvoll. Plötzlich entstand ein Wiedersehen. „Sei
mein!" hauchte ihr jugendfrisches Skelett. „Wozu", eiselte das Angehauchte,
„um zu sterben?" — „Nein", klapperte das Hauchende dumpf, „um zu
leben." Widergespenstig folgte der ehemalige Jüngling seiner Weg-
weiserin. Sechs bange Tage verstrichen und eine einmal monatlich er-
scheinende Wiener Wochenschrift erzählte ihrem Leser von den beiden
Liebenden, die der Tod leben gelernt.
Kehren lvir zu den Erwachsenen zurück. Das Jahr 1958
brachte uns die Symmetriker. Das Schwergewicht ihrer Dicht-
ungen legten sie mit mathematischer Genauigkeit in die Mitte
ihrer Elaborate. Bezüglich der Exposition und des Ausganges
herrschte volle Symmetrie. Ob man nun ihre Werke nach ab-
lvärts oder nach aufwärts las, man gelangte immer zu dem-
selben Kern. Eine wenig bekannte Arbeit des Symmetrikers
Peter Ander: „Am Seeufer", will ich Ihnen nicht vorent-
hält en:
Mm Seeufer-!
b Wasser, Wasser, Wasser-!
Der Abend küßt den See wie Rodrigo seine Pepita!
Aber sie versteht ihn nicht in ihrer zum Druck nicht geeigneten Gemein-
heit -—
Armer Rodrigo-!
Sein tönend gewordenes Selbst strebt nach Höherem. . . hinauf . . .
hinauf . . . eine Leiter-!!
Ich fühle, er fühlt, sic fühlt für ihn nicht rein-!
Er denkt; Napoleon, Alexander der Große-
Aber sie, sie denkt; Boccacio, Catulle Mendts, Mantegazza, Uvette
Guilbert, Fregoli-!
Ein schwarzer Adler kreist in den Lüften--
Rodrigo sieht ihn und sagt: Beinahe der Vogel des Prome-
theus —-!! Verkappte Identität-!
Auch Pepita sieht das Ungethüm und sagt:
Schwarzer Adler — Wien — Leopoldstadt — Taborstraße — Clabrias-
partie — Gebrüder Rott-
Die Natur in ihrem unsagbaren Mitleid fängt zu singen an-
Sie singt: Gelb ist das Leben und braun ist der Tod-
Wie Märzveilchen im September-
Es klingt wie eine große Symphonie-— !!
Gibt es überhaupt ein noch so widerliches Geräusch,
Das dem Eingeweihten nicht wie eine Symphonie klingt--
Ein schwarzer Adler kreist in den Lüften --!!-
Rodrigo denkt: Napoleon, Alexander der Große-
Aber Pepita denkt: Boccacio, Eatulle Mendss, Mantegazza, Uvette
Guilbert, Fregoli-
Der Abend küßt den See wie Rodrigo seine Pepita-!!
Wasser, Wasser, Wasser,-!
Am Seeufer-!
Wie die liächtliche Finsterniß durch Vermittlung der
Sonne langsam zur Tageshelle übergeht, so schrumpfen alle
bisher erwähnten Dichterschulen zu
einer hohlwangigen Null zusammen
vor dem, alles Dagewesene über-
bietenden Genie der Mosa-
iker, die den letzten Stein
M
hat, daß der Grundsatz derselben „Das Subject kriegt ein Prä-
dicat", auf die Adelsverleihungen im Mittelalter zurückzuführen
ist. In seinem berühmten Jugendwerk „Die Hauptwörter in neuer
Beleuchtung" macht er über tausend Wörter zum Gegenstand
einer psychopathischen Analyse, und wenn heute anerkannt ist, daß
der Applaus eilt Rufzeichen, der Wechsel ein unbestimmtes Zahl-
wort und das Staatsgrundgesetz kein Bindewort, so ist dies
ein Verdienst Reiner's. Auch als Lyriker leistete er Außer
ordentliches. Eine Perle von unschätzbarem Werth ist sein .
am 15. November 1928 entstandenes Gedicht „Frühlings- (/
wäsch e", das in unvergleichlicher „Krafft" der Sprache und
„Ebbing" der Diction anhebt:
Mn der Waldesscharte
Blüht die Lerche neu.
Graue Rosen singen —
Was, ist einerlei.
Auf den Bergen lauert
Mißverstand'ne Luft
Und die neue Amsel,
Welche Kuckuck ruft.
Das folgende Jahrzehnt charakterisirt sich durch das Auf-
tauchen der Wickeldichter, deren productive Fähigkeiten augen-
blicklich nach der Entwöhnung erloschen. Wir kennen ihrer über
vierzehntansend. Einige von ihnen hatten die Eigenart, daß sie
nur mit nngespitztem Blei schreiben konnten und wenn sie das
Honorar voransbekamen. Das berühmteste Werk jener Epoche
sind die „Liebesabenteuer eines Lebensmüden", verfaßt
von der kleinen Gusti Trinker im vierten Monat ihres Lebens;
denn auch die Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes stellten
ihren Mann. Sie dichteten ausschließlich hinter dem Rücken
ihrer Mutter. Eine kleine Skizze aus dem erwähnten Bilch will
ich Ihnen vorlesen:
Eine Grabphantasie von Gusti Trinker,
war Friedhof. Die Nacht war ganz herabgekonnnen und die
kleinen Seelen in den feuchten Grabgründen froren in ihren
fadenscheinigen Hemdchen, welche nach der Näherin schrieen. Eine
derselben hatte zu irdischer Zeit einem koketten Mädchen der
sogenannten Gesellschaft angehört, das mit den Männerherzen
Fangbällen spielte, als wären dieselben nicht aus Fleisch und Blut
geschnitzt, sondern anders. Aber eines Tages kroch die rächende
Vergeltung in sie hinein in Gestalt einer reißenden Liebe zu einem
schönen Jüngling mit übertriebenen Augen, in denen man lesen
konnte die Vergeltung, ja, denn ihre Mutter neinte die Verbindung
aus Gründen. Ablebenslustig rüstete das Mädchen zu einem secessi-
onistischen Ende und jagte sich einen Giftbecher in die Nierengegend.
Der junge Mann auf die Kunde siechte hin, gerieth in Schulden,
starb. Auf demselben Friedhof lagen sie nun begraben; auch die
zwölfte Stunde, die beiden schlug, war die-
selbe. Der Tod trat auf. In der rechten
Hand hielt er eine Leier, die aus Knochen
zusammengefügt und nur mit einer Saite
bespannt war, in der linken Hand hielt
er die rechte. Tim tam erklang es
alsbald von der Knochenleier mit
<f
grauenhafter Wirklichkeit. Da verließen die Seelen ihre warmen Gräber,
umhalsten sich unter den Klängen der farblosen Accorde und stürmten dahin,
wild tanzend, erwartungsvoll. Plötzlich entstand ein Wiedersehen. „Sei
mein!" hauchte ihr jugendfrisches Skelett. „Wozu", eiselte das Angehauchte,
„um zu sterben?" — „Nein", klapperte das Hauchende dumpf, „um zu
leben." Widergespenstig folgte der ehemalige Jüngling seiner Weg-
weiserin. Sechs bange Tage verstrichen und eine einmal monatlich er-
scheinende Wiener Wochenschrift erzählte ihrem Leser von den beiden
Liebenden, die der Tod leben gelernt.
Kehren lvir zu den Erwachsenen zurück. Das Jahr 1958
brachte uns die Symmetriker. Das Schwergewicht ihrer Dicht-
ungen legten sie mit mathematischer Genauigkeit in die Mitte
ihrer Elaborate. Bezüglich der Exposition und des Ausganges
herrschte volle Symmetrie. Ob man nun ihre Werke nach ab-
lvärts oder nach aufwärts las, man gelangte immer zu dem-
selben Kern. Eine wenig bekannte Arbeit des Symmetrikers
Peter Ander: „Am Seeufer", will ich Ihnen nicht vorent-
hält en:
Mm Seeufer-!
b Wasser, Wasser, Wasser-!
Der Abend küßt den See wie Rodrigo seine Pepita!
Aber sie versteht ihn nicht in ihrer zum Druck nicht geeigneten Gemein-
heit -—
Armer Rodrigo-!
Sein tönend gewordenes Selbst strebt nach Höherem. . . hinauf . . .
hinauf . . . eine Leiter-!!
Ich fühle, er fühlt, sic fühlt für ihn nicht rein-!
Er denkt; Napoleon, Alexander der Große-
Aber sie, sie denkt; Boccacio, Catulle Mendts, Mantegazza, Uvette
Guilbert, Fregoli-!
Ein schwarzer Adler kreist in den Lüften--
Rodrigo sieht ihn und sagt: Beinahe der Vogel des Prome-
theus —-!! Verkappte Identität-!
Auch Pepita sieht das Ungethüm und sagt:
Schwarzer Adler — Wien — Leopoldstadt — Taborstraße — Clabrias-
partie — Gebrüder Rott-
Die Natur in ihrem unsagbaren Mitleid fängt zu singen an-
Sie singt: Gelb ist das Leben und braun ist der Tod-
Wie Märzveilchen im September-
Es klingt wie eine große Symphonie-— !!
Gibt es überhaupt ein noch so widerliches Geräusch,
Das dem Eingeweihten nicht wie eine Symphonie klingt--
Ein schwarzer Adler kreist in den Lüften --!!-
Rodrigo denkt: Napoleon, Alexander der Große-
Aber Pepita denkt: Boccacio, Eatulle Mendss, Mantegazza, Uvette
Guilbert, Fregoli-
Der Abend küßt den See wie Rodrigo seine Pepita-!!
Wasser, Wasser, Wasser,-!
Am Seeufer-!
Wie die liächtliche Finsterniß durch Vermittlung der
Sonne langsam zur Tageshelle übergeht, so schrumpfen alle
bisher erwähnten Dichterschulen zu
einer hohlwangigen Null zusammen
vor dem, alles Dagewesene über-
bietenden Genie der Mosa-
iker, die den letzten Stein
M
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die Literatur im zwanzigsten Jahrhundert"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1899
Entstehungsdatum (normiert)
1894 - 1904
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 110.1899, Nr. 2801, S. 152
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg