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Bestellungen werden in allen Buch- und Kunst- . _ ,, Erscheinen wöchentlich ein Mal. Preis dcsBandes

20. Handlungen, sowie von allen Postämtern und (26 Nummern) 6 Mark 70 Pf., cxcl. Porto bcil-XII.Bd.

_Zeitungsexpcditionen angenommen. directem Bezüge. Einzelne Nummern 30 Pfennige.

Eine Virtuosin.

Von Ludwig Kalisch.

(Schluß.)

Es ist möglich, daß Frau Bretzel an ihre eigenen Worte
glaubte; gewiß aber ist, daß diese schnurstracks der Wahrheit ent-
gegengesetzt waren. In ihrer Familie hatten nicht, >vie sie
behauptete, die Frauen, sondern die Männer ein unerträgliches
Ehejoch zu schleppen. Wer die Genealogie der biedern Frau nur
einigermaßen kannte, wußte dies recht gut. Wie dem aber sei,
Frau Bretzel geberdete sich stets als Opfer, und da Niemand unter-
nahm, cs ihr auszureden, so suchte sie, es Allen einzureden.

Sogleich nach der Rückkehr von der Reise, auf der sie
ihre Tochter begleitet, hatte sie ihre Vaterstadt als Opfer des
Undanks durchscufzt und es gelang ihr endlich durch eine fromme
Einflußreiche- Partei eine ziemlich einträgliche Stelle an einer
städtischen Wohlthätigkeitsanstalt zu erhalten. Durch allerlei
kleine Ränke und Dienstleistungen wußte sie ihre Einkünfte zu
vermehren, was sic indessen nicht verhinderte, fortwährend zu
seufzen und zu klagen.

Gleich am folgenden Morgen nach der Ankunft ihrer Tochter
setzte sic sich in Bewegung und bestürmte jedes Ohr mit der
Leidensgeschichte der Frau Grünspecht. Sie erfand in dieser
beschichte hunderterlei grausame Mißhandlungen, denen ihre
Tochter alltäglich an der Seite des verruchte» Gatten ausgesetzt
gewesen, bevor sie von ihm schnöde verlassen worden. Ihr Haß
gkgcn den Schwiegersohn war so heftig, daß sic ihn in ihrer
Erzählung als ein Scheusal hinstclltc, wie ei» solches noch niemals
von der deutschen Sonne beschienen worden.

Wo aber befand sich Grünspecht-Bretzelius?

Trotz aller Nachforschungen der Mutter und Tochter gelang
c§ diesen nicht, seine Spur zu entdecken. Aber nachdem fünf
Lcnze geblüht, erfuhren sic zufällig, daß er, von einer langen
likeise in's Ausland zurückgckchrt, in einer norddeutschen Stadt
vls Kanzlcirath angestellt war und zwar unter dem Namen Specht.

Nun fanden lebhafte Berathungcn über die gegen den
Treulosen zu unternehmenden Schritte zwischen Frau Bretzel und
Hulda statt. Hulda wollte sogleich die Reise zu dem entflohenen
Gatten antreten. Ihre Mutter wußte aber gegen diesen Ent-
schluß tausend Gründe geltend zu machen, unter welchen sie
besonders den hcrvorhob, daß eine Mutter, die für die Ber-
thcidignng der Rechte ihres einzigen, von einem Elenden vcr-
rathencn und verstoßene» Kindes auftritt, eine größere Wirkung
hervorbringc, und ein viel wärmeres Mitgefühl erwecke, als das
unglückliche Kind selbst.

Hulda gab endlich nach, und Frau Bretzel packte drei
große Koffer, versah sich mit ebensoviel Hutschachteln und zwei
bis zum Ersticken gefüllten Nachtsäcken, that alle nöthigen Papiere,
unter welchen sich auch das Brieffragment an die problematische
Julia befand, in eine Brieftasche und begab sich auf die Reise.

Während der Fahrt arbeitete sie an der langen Rede, mit
welcher sie boi treulosen Eidam niederzuschmettern und so ihreln
Hasse gegen ihn Luft zu machen beabsichtigte. Sic war indessen
eine praktische Frau und so heftig auch der Groll gegen ihn ihr
Herz erfüllte, so unternahm sic doch die Reise zu ihm nicht blos,
um ihre Leidenschaft zu befriedigen, sondern den entflohenen
Gatten zur Erfüllung seiner Pflicht zu nöthigen. In dieser
Absicht hatte sie auch den Inhalt ihres Kleiderschrankes in die
Koffer.gethan. Ihr Plan war nämlich, eine Audienz bei dem
Minister und wo möglich bei dem Landesfürsten zu erhalten,
im Falle der Schwiegersohn, dessen Keckheit sic kannte, sich taub
gegen ihre Vorstellungen zeigen würde. Sie wollte aber mit
aller möglichen Eleganz auftreten.

Endlich langte sie an dem Ort ihrer Bestimmung an, wo sic
in dem ihr empfohlenen Gasthaus „Zur goldenen Gans"
abstieg.

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